Weihnachten mit Mama
beiseitelege. Für mich ist das Feuilleton nicht der erste Gang, sondern das strahlende Finale des Zeitungsmenüs.
»Papa«, versuchte ich mich frohlockend dazwischenzudrängen.
»Hm?«, knurrte mein Vater.
»Ich gehe gleich einkaufen. Mama macht mir einen Zettel.«
Das veranlasste ihn doch, einen oberen Zipfel der Zeitung umzuknicken und mir über den Rand einen erstaunten Blick zuzuwerfen.
»A-ha«, sagte er nur, doch ich meinte, aus diesen beiden Silben nicht nur Erstaunen, sondern auch einen Anflug von Anerkennung herauszuhören. Dann richtete sich der Zipfel wieder in seine ursprüngliche Position hoch.
»Und was hast du heute so vor?«, versuchte ich, das Gespräch – wenn man das überhaupt so nennen konnte – mit dem klugen Kopf hinter der Zeitung in Gang zu halten.
Doch Papa war alles andere als gesprächig und brummte nur: »Vielleicht den Christbaum schmücken … ich weiß noch nicht.«
Oha. Damit war alles über seine Laune gesagt.
Es hätte mich stutzig machen sollen, dass der »kleine Einkaufszettel« nicht in längstens zwei, drei Minuten fertig wurde, sondern dass Mama sich eine geschlagene Stunde Zeit ließ. Entnervt vom Warten sprang ich schließlich auf und stürmte in den Salon, wo sie aber nicht war. Auch nicht im Schlafzimmer, nicht in einem der Gästezimmer oder im Wintergarten. Nachdem ich sämtliche Türen der Wohnung einmal aufgerissen und inspiziert hatte, ob sich hinter ihnen irgendein Leben regte, hielt ich einen Moment inne, bevor ich die Hand auf die Klinke zu jenem kleinen Zimmer legte, das Mama – so nostalgisch wie Papa sein Bureau – »mein Boudoir « nannte. Wie Frau Siebenschön ihren Mann in seinem Refugium in Frieden ließ, betrat Herr Siebenschön niemals das Boudoir seiner Frau. Und so befiel auch mich eine unerklärliche Scheu, das Zimmer ohne Anklopfen zu betreten.
Ich klopfte also an. Keine Reaktion. Dann drückte ich sachte die Klinke hinunter und öffnete die Tür gerade so weit, dass ich einen Blick hineinwerfen konnte. Niemand drin. Verflucht, wo steckte sie nur? Dann bemerkte ich, dass die Tür zum Balkon einen Spalt offen war und der kalte Wind die Vorhänge leicht bauschte. Sie wird doch nicht bei der Eiseskälte auf dem Balkon sein und sich den Tod holen , dachte ich.
»Mama«, rief ich mit der Stimme eines besorgten Kindes im Alter von fünf Jahren. Dann räusperte ich mich und setzte ein markigeres »Mama!« nach.
Da hörte ich ein Rascheln hinter dem Spiegeltisch. Mit einem Satz war ich im Zimmer. Und entdeckte meine Mutter. Sie kauerte auf dem Boden, wälzte Kochbücher und kritzelte hektisch Papier voll.
»Meine Güte, Mama, hast du mich erschreckt. Was machst du da unten?«
»Ach, du bist’s. Meine Güte, hast du mich erschreckt.«
Spielen wir jetzt das kindisch-nervige Spiel, in dem man immer das wiederholt, was der andere so von sich gibt?
Mit einem leichten Ächzen erhob sie sich. »Der Wind hat das Papier und den Stift runtergeweht«, sagte sie in einem Tonfall, als sei dies nicht nur eine Erklärung, sondern auch eine Entschuldigung.
»Und da musst du deine Notizen da unten fortsetzen?« Ich schüttelte halb ungläubig, halb unwillig den Kopf.
Sie zuckte mit den Schultern wie ein kleines Mädchen, das bei etwas ertappt worden war, was nicht ganz comme il faut war, dann lächelte sie leicht und setzte ihren Rehblick auf.
»Hast du den Zettel fertig?«, fragte ich Bambi.
Bambi nickte eilfertig. »Gerade jetzt.«
»Klasse. Na, dann gib mal her und lass mich sehen.«
Ich kann nicht sagen, dass der Zettel sonderlich groß gewesen wäre, obwohl ich eine Einkaufsliste im A4-Format schon ziemlich ungewöhnlich fand. Bemerkenswerter erschien mir die winzige Schrift, mit welcher der Zettel bedeckt war, so klein, als hätte eine Elfe hier ihre gesamte Autobiografie aufgeschrieben. Ich konnte es kaum entziffern und maulte: »Mutter, ich bin neununddreißig Jahre alt. Und auch bei mir lässt die Sehkraft inzwischen zu wünschen übrig.«
»Ich hab’s dir ganz genau aufgeschrieben. Laden für Laden, damit du nichts verwechselst und nicht durcheinanderkommst. Ist doch ein bisschen mehr geworden …«
»Ein bisschen? Das sind überschlägig drei Spalten, je vierzig Zeilen, also hundertzwanzig Positionen. Da bin ich ja drei Tage unterwegs. Und muss mir einen Kleintransporter mieten.«
»Ach, Buberl, immer musst du übertreiben«, entgegnete meine Mutter mit unwilligem Unterton. »Die paar Sachen …«
»Also schön, ich hab’s dir ja
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