Weihnachten mit Mama
Vielleicht denkt sie auch, Fritz heißt auf Englisch Francis, und wollte ein Wortspiel machen. So wie sie Robert manchmal Roberto nennt …«
»Witzig? Deine Mutter ist humorresistent, hast du das vergessen? Und ein Wortspiel war’s ganz sicher nicht – sie hätte mich schelmisch von der Seite angesehen, um mitzukriegen, wie ich reagiere.«
»Kennst du überhaupt irgendjemanden, der Francis heißt?«, fragte ich.
Papa schüttelte den Kopf und zündete die Zigarre wieder an, die auch ihm ausgegangen war. Er seufzte. »Wahrscheinlich dreht sie durch. Alzheimer, Schizophrenie, was weiß ich. Erst verwechselt sie die Personen, die ihr am nächsten stehen, dann hört sie womöglich Stimmen, und zum Schluss läuft sie im Nachthemd auf die Straße oder tanzt nachts in einem Brunnen. Das läuft hier alles aus dem Ruder, Johannes.« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »Ich kann nur hoffen, dass sie bis zu ihrem Fünfundsechzigsten durchhält.« Er goss uns beiden noch einmal Cognac nach, als bedürfe diese düstere Befürchtung eines wirksamen Gegenmittels.
»Papa!«, rief ich empört. »Jetzt mach aber mal einen Punkt! Und fantasier dir nichts zusammen. Ich werde mich morgen einschalten, ich versprech’s dir. Die Bestellungen und Besorgungen übernehme ich. Und zwar alle! Ich werde Mama zwingen, einen großen Einkaufszettel zu schreiben, und dann mache ich mich auf den Weg. Das wär doch gelacht, wenn wir das nicht alles noch auf die Reihe bekämen.«
Ich bemühte mich um einen optimistischen Gesichtsausdruck, der meine Skepsis Lügen strafen sollte. Es hatte gar keinen Sinn, sich mit Papa in Katastrophenszenarien zu ergehen und die dunklen Feuer der Panik zu schüren. Mein Vater war im Moment offensichtlich außerstande, das Ruder in die Hand zu nehmen. Doch auch ich wusste, dass der Kapitän des Traumschiffs Mama war. Und welche Rolle sie mir von der Kommandobrücke aus zuzugestehen bereit war – Erster Offizier, Steward, Küchenjunge oder vielleicht auch nur Hilfsmaschinist –, war keineswegs ausgemacht.
»Ich wünsche dir Glück, mein Junge … wirklich«, sagte Papa grimmig und hielt seinen bauchigen Cognacschwenker gegen das Kerzenlicht, als sei er eine Kugel, aus der sich die Zukunft lesen lasse. Aber es war nur die goldene Flüssigkeit, die im Kerzenschein schimmerte, und sie sagte uns nichts über die Zukunft, wohl aber schenkte sie ein Quäntchen Trost, das wir beide brauchen konnten.
6
Ach, immer musst du übertreiben!
I n dieser Nacht schlief ich nur wenig. Schließlich sank ich in einen langen, unendlichen Traum, und auch wenn ich immer wieder aufschreckte, setzte er sich doch fort, sobald ich die Augen wieder geschlossen hatte. Es war eine Art Endlosschleife, die mich durch die Nacht zog, und ich war gefangen in bizarren Phantasmagorien und wirren Bildern, absurden Szenen und völlig überdrehten Geschichten, in denen niemand vorkam oder eine Rolle spielte, den ich kannte. Der Traum hatte nichts mit Mama zu tun, nichts mit Papa und auch nichts mit Weihnachten, und weder Julie entfaltete ihre erotischen Talente noch Daniela di Sordi, die überaus attraktive Verlegerin der direkten Konkurrenz von Siebenschön. Keine Elfen und Feen bevölkerten mein Traumuniversum, sondern allein die Schemen einer womöglich überreizten Fantasie.
Um sieben Uhr hielt es mich nicht mehr im Bett. Ich stand auf, tastete mir im Dunkeln den Weg durch die Wohnung bis zur Küche, wo ich Licht machte und Wasser aufsetzte. Mit einem starken Kaffee hoffte ich, die Gespenster der Nacht vertreiben zu können. Ich drehte auch die Heizung auf, denn über Nacht war es empfindlich kühl in der Küche geworden, und mit einem Gurgeln und Glucksen und anderen undefinierbaren Geräuschen, die wie das
Räuspern eines Berggeists klangen, erwachte der alte gusseiserne Heizkörper zum Leben und erinnerte mich daran, dass er schon einige Jahrzehnte zwar problemlos, jedoch keineswegs geräuschlos seinen Dienst versah.
Der heiße Kaffee tat mir gut, ich trank ihn in kleinen Schlucken aus einer der großen Rosentassen, die ich noch aus meiner Kindheit kannte und die ebenfalls unverwüstlich waren. Ein Blick in den Kühlschrank überzeugte mich, dass von einem akuten Versorgungsnotstand keine Rede sein konnte. Doch Papa hatte recht – das Fest des Jahres war noch nicht einmal ansatzweise in Angriff genommen worden.
Es war noch niemandem in unserer Familie gelungen, jemals längere Zeit in der Küche sitzen zu können, ohne dass alsbald
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