Weihnachten mit Mama
berichtete, von all dem, was mein Leben hier so spannend machte. Mit ihrem unerschütterlichen Optimismus hatte Julie auf meine zugegeben wohl etwas witzig zugespitzten Erzählungen leichthin geantwortet: »Ach, isch freu mich trotzdem auf euch … auf Weihnachten … auf dich.« Und es war wohl meine Befürchtung, diese Vorfreude meiner Liebsten schließlich enttäuscht sehen zu müssen, die mich in den Orkus der Mut- und Hoffnungslosigkeit hinabzog. Denn alles, was wir hier bislang erlebt hatten, würde – das wusste ich wohl – nichts sein gegen das Inferno der Réunion familiale , gegen das Gewitter, das sich stets über uns zusammenbraute, sobald sich ein paar von unserer Sippe zusammenfanden.
Ja, ich muss zugeben, dass all die Geschichtchen, die ich Julie erzählte, mich zunehmend pessimistisch stimmten. Ich sah zum Heiligabend schon Gewitter aufziehen. Dabei hatte es noch nicht einmal gedonnert. Nur ein Wetterleuchten war am Horizont zu sehen gewesen.
Papa hatte kapituliert, als er mich angerufen hatte. Wie stets versuchte er, sich in Ironie zu flüchten und in Sarkasmus zu retten, gegen die Mama wie stets allergisch reagierte. Diesmal hatte er sich aus dem Gefecht gezogen, den Rückzug angetreten, wohl darauf vertrauend, dass es sein ältester Sprössling schon richten würde: das mit Mama und mit Weihnachten und allem Drum und Dran. Er war ein begnadeter Delegierer oder – wie man heute gern sagt – ein Wegmoderierer. Nicht geschaffen für Disharmonie und Dominanz, Ehrgeiz und Effizienz. Wann und wo immer er ein Donnergrollen hörte, brachte er sich in Sicherheit. Und überließ mir das Terrain, wo ich mit Drachen und Dämonen kämpfen sollte und er meine Kämpfe aus der Distanz mitverfolgen konnte.
Während mich also, wenn ich an das bevorstehende Fest dachte, düstere Ahnungen beschlichen, versuchte ich, meinen Eltern auch am nächsten Tag hilfreich zur Seite zu stehen. Ich räumte auf, putzte, bezog die Betten. Ich brachte den Müll runter, alle paar Stunden. Meine Mutter verfolgte meine Anstrengungen mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Widerborstigkeit. Sie fand nicht den richtigen Ton, wenn sie mich zurechtwies oder kritisierte oder wenn ich etwas nicht so gemacht hatte, wie sie es sich vorgestellt hatte oder wie es in ihren Augen sein musste. Vielleicht war ihr bewusst, dass sie ohne mich verloren war, dass sie es nie und nimmer allein schaffen würde. Doch das Gefühl der Hilflosigkeit oder Unzulänglichkeit löste bei meiner Mutter nicht das erleichternde Eingeständnis von Schwäche aus, sondern eine gewisse Kratzbürstigkeit. In diesen Tagen vor Weihnachten wurde ich wieder zu dem acht-, zehn-, zwölfjährigen Buben, der vielleicht nicht ganz so war, dass man auf ihn stolz sein konnte. Das Buberl eben. Ich schluckte schwer daran.
Mama war auf einem ganz unberechenbaren Trip: Sie hatte an dieses Weihnachts- und Geburtstagsfest so viele Erwartungen und Hoffnungen geknüpft, dass mir ganz bange wurde. Ich merkte es an vielen Details: ihre stets latente Unruhe, ihre Unkonzentriertheit – bei gleichzeitigem Perfektionswahn, versteht sich –, ihre Gereiztheit, die sich gegen Papa und mich in kleinen Spitzen entlud. Wir beide schienen ihr irgendwie nicht richtig in der Spur, waren uns womöglich der Bedeutung des Ereignisses nicht bewusst. Vielleicht bin ich jetzt ungerecht, aber dieses Gefühl ließ sich einfach nicht abschütteln: Letztlich genügten wir ihr nicht. Was sie uns immer wieder spüren ließ.
Am frühen Nachmittag dieses Tages begann Papa tatsächlich damit, den Christbaum aufzustellen und zu schmücken. Dass er mittendrin war, entnahm ich den unterdrückten Fluchen, die in zunächst unregelmäßigen, schließlich jedoch regelmäßigen Abständen durch die verschlossene Tür aus dem Weihnachtszimmer drangen. Es war nicht so, dass Papa die Tür abgeschlossen hätte, er machte sie nur hinter sich zu. »Ich kann keine Zuschauer gebrauchen«, erklärte er immer kategorisch, mit einer Entschlossenheit, mit der wohl auch Michelangelo seinen Auftraggeber, Papst Julius, aus der Sixtinischen Kapelle hinauskomplimentiert hatte. Und so wie der Pontifex es nicht lassen konnte, dort immer wieder nach dem Rechten zu sehen – und sei es nur, um den störrischen Maler unter Druck zu setzen und anzutreiben –, so öffnete auch Mama immer wieder die Tür, steckte den Kopf herein und fragte: »Brauchst du Hilfe, Schatz?« oder »Kommst du zurecht, Liebling?« Was Papa immer nur noch mehr
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