Weihnachten mit Mama
war einfach zu schmerzvoll. Was soll’s, ich bekam ohnehin keinen Sauerstoff mehr. Sollte ich je wieder Luft brauchen, würde ich sie einfach durch dieses große Loch einsaugen.
8
Meinst du, mir macht das Spaß?
A uch wenn ich geahnt hatte, dass sie kommen würde, Mamas ganz private Modenschau, überraschte es mich diesmal doch, meine Mutter wenige Stunden später so unschlüssig vor dem Kleiderschrank zu sehen. »Was ziehe ich nur an? … Was ziehe ich nur an?« Es passte nicht zu ihr, dass sie diesem Detail der immensen Vorbereitungen zur größten Familienfeier aller Zeiten bislang nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben schien. Sie überließ ja auch sonst wenig oder genauer: gar nichts dem Zufall. Die Inszenierung musste perfekt sein, und dazu gehörte zweifellos das Kleid. Das richtige Kleid.
Sie erwischte uns im denkbar günstigsten Moment: Da der Salon noch immer nicht begeh- und bewohnbar war, hatten Papa und ich es uns am Abend im Bureau gemütlich gemacht, und auch wenn sie wie stets Zurückhaltung walten ließ und es nicht betrat, öffnete Mama einfach die Tür und funktionierte den Eingang zur Bühne um. Papa hatte sich hinter seine Zeitung verschanzt, doch er würde ihren Fragen nicht entkommen, das wusste ich. Und auch ich würde zu jedem Auftritt, zu jedem Kleid meinen höchstpersönlichen Erstgeborenensenf dazugeben müssen. Nicht, dass es etwas ausgemacht hätte – Mama würde am Ende anziehen, was sie wollte, völlig gleich, was wir davon hielten und welche Meinung wir kundtaten. Mochten wir den Daumen heben oder senken – das würde völlig ohne Belang sein. Trotzdem – die Modenschau gehörte dazu. Und so fügten wir uns ergeben in das uns zugedachte Schicksal.
Mamas Kleiderschränke befanden sich nur wenige Schritte vom Bureau entfernt, strategisch günstig, um es mal so zu sagen. Daher wurden wir auch unfreiwillige Zeugen ihrer Selbstgespräche und Kommentare, mit denen sie den ihr zur Verfügung stehenden Fundus an Kleidern einer strengen Musterung unterzog. »Das passt nicht mehr … Meine Güte, un-mög-lich … Das könnte gehen … Oh, mein Gott … Hey, was haben wir denn da …?« Bis hin zum Klassiker: »Ich hab einfach nichts anzuziehen. Das sage ich schon seit Jahren.« Hab ihn nie verstanden, diesen Standardsatz, den auch Julie stets parat hat, wenn sie unschlüssig ist. Das Problem ist ja nicht das defizitäre Volumen der zur Verfügung stehenden Auswahl, sondern dass die Auswahl eben nicht getroffen wird. Nicht getroffen werden kann. Alles eine Frage der Entscheidung, sage ich mir in solchen Momenten immer. Frauen entscheiden eben nicht gern. Anders als Männer, die Entscheider schlechthin – obwohl es auch da etliche Gegenbeispiele gibt, was auf eine strikte »Kompetenzverteilung« in der Ehe oder Beziehung schließen lässt. Ist nämlich die Frau die Bestimmerin, die Herrscherin, die Entscheiderin, wird der Mann diese Rolle niemals beanspruchen oder sie sich aneignen. Er wird sich immer fügen. Zu seinem Glück.
Papa hatte seine Rolle ganz offensichtlich gefunden, in all den Ehejahren. Nach außen hin war er durchaus entscheidungsfreudig, aber was er zu entscheiden hatte oder meinte, musste immer erst durch eine Kontrollinstanz. Muss ich erwähnen, dass Mama am Grenzbaum aller Entscheidungen saß und prüfte, ob die Papiere in Ordnung waren? Da sie so offensichtlich die Regentin war und sich auch als solche fühlte – die Rolle beziehungsweise Position, die damit verbunden war, jedenfalls ganz selbstverständlich ausfüllte –, waren unsere Meinungen zwar gefragt, aber absolut sekundär. Sie fielen einfach nicht ins Gewicht.
Wir nahmen also, ob wir es wollten oder nicht, lebhaft Anteil an Mamas Entscheidungsfindung, das Kleid betreffend. Das erste, welches sie uns vorführte, angezogen natürlich, war ein Traum in Weiß.
»Heiratest du?«, fragte Papa mürrisch.
»Fritz, sei kein Narr. Das ist aus Rom, weißt du nicht mehr? Es ist dieses hinreißende Grace-Kelly-Kleid, eines, mit dem man in den Brunnen steigen kann. Du hast es mir selbst gekauft und geschenkt.«
»Das war vor einem Vierteljahrhundert, meine Liebe. Ist verjährt. Und es war Anita Ekberg in dem Brunnen, nicht Grace Kelly. Dolce vita . Die Oberweite hast du nicht«, stellte er nüchtern fest, »gottlob.«
»Na, schön … schauen wir weiter.« Und weg war sie.
Nach dem Traum in Weiß, das von zeitloser Eleganz gewesen war, aber für den bevorstehenden Anlass möglicherweise doch etwas zu
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