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Weihnachten mit Mama

Weihnachten mit Mama

Titel: Weihnachten mit Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Thanner
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beschwichtigen. Sie hatte immer noch einen letzten, perfiden Pfeil im Köcher:
    »Mag sein, dass er sich nicht helfen lassen will . Aber er braucht Hilfe, das ist doch keine Frage.«
    »Der Baum ist wirklich riesig dieses Jahr«, sagte ich, als wollte ich einlenken.
    »Der größte Baum, den wir je hatten«, stellte Mama stolz fest. »Er geht bis zur Decke.« Und die Decke war im Salon drei Meter fünfzig hoch. »Auf dem Petersplatz in Rom haben sie auch keinen schöneren Baum.«
    »Vor allem keinen so schön dekorierten.«
    »Ach, das ist ein Witz. Auch auf dem Marienplatz … ich bitte dich … ein riesiges Trumm aus Tirol, an dem verloren ein paar Girlanden mit Glühlampen baumeln. Ein Trauerspiel!«
    Dann wieder ein Fluch, der irgendwie nach »Herrgottssakramentnochmalwasfüreinhundserbärmlicher …« klang – die letzten Silben müssen aus Schicklichkeitsgründen entfallen. Vielleicht lesen hier Minderjährige mit.
    Dazu muss man sagen, dass mein Vater, so ausgeglichen er wirkt und so bedächtig und nicht aus der Ruhe zu bringen er zu sein scheint, zum Berserker wird, sobald er mit etwas kämpft, das sich seinen Intentionen nicht fügen will. »Ich hasse es, wenn sich mir Materie widersetzt«, erklärt er dann ein ums andere Mal, wenn es ihm wieder einmal nicht gelingt, die festen Knoten aus den Schnürsenkeln aufzulösen, einen Nagel in eine Betonwand einzuschlagen, die Folie um ein Buch zu entfernen oder überhaupt eine Verpackung aufzubekommen. Oder eben den Weihnachtsbaum einzustielen. In meinem ganzen Leben habe ich es nur drei oder vier Mal erlebt, wie mein Vater komplett die Beherrschung verlor, und nie waren es Menschen, über die er sich »sakrisch« aufregte, sondern immer waren es unzugängliche beziehungsweise sich ihm widersetzende Gegenstände und widerspenstige Dinge, gegen die sich sein ungehemmter Zorn richtete.
    So dachte ich mir zunächst nichts bei dem permanenten akustischen Gegrummel und Gemurre, das aus dem Weihnachtszimmer drang. The same procedure as every year . Er plagt sich wieder einmal ab, sagte ich mir, und nichts geht so einfach von der Hand, wie er es sich nun einmal vorstellt, dass es gehen müsste. Doch was ich dann hörte, war im wahrsten Sinne des Wortes unerhört. Denn der nicht enden wollende Fluch ging in einem Getöse unter, dessen Hauptdezibel auf das Konto einer umkippenden Leiter, eines zu Boden krachenden Körpers und weiterer nicht näher zu definierender Kalamitäten gingen.
    Mama fuhr auf, wie von der Tarantel gestochen. Doch es gelang mir, sie zurückzuhalten. Möglicherweise, so schoss es mir durch den Kopf, war etwas geschehen, das zu sehen meinem Vater eher peinlich war. Ich lief zum Wohnzimmer, öffnete die Tür und sah Papa ächzend und stöhnend auf dem Boden liegen. Und auf ihm drauf lag die Tanne. Noch ungeschmückt. Sogar noch verschnürt.
    »Papa … um Himmels willen … was machst du denn für Sachen?«, rief ich und eilte auf ihn zu, um den Baum von ihm wegzuschieben.
    »Für Sachen … für Sachen …«, echote er, als hätte ich ihm damit eine Steilvorlage für neue Schimpftiraden gegeben. »Das siehst du doch, oder? Dieser … dieser … vermaledeite Baum … dieses Riesentrumm … er konnte ja nicht groß genug sein … deine Mutter … ich …« Der Rest ging in einem erneuten Ächzen unter.
    Das Malheur erschloss sich bereits auf den ersten Blick, und es war mir schleierhaft, dass Papa es nicht bemerkt hatte: Der Ständer war viel zu klein, viel zu schwach, um den mächtigen Stamm festzukrallen und zu halten. Darauf hätten sich sogar Stevie Wonder und Andrea Bocelli gegenseitig aufmerksam machen können. Nie und nimmer würde dieser wackelige Ständer mit seinen vier verstellbaren kleinen Krallen den Baum in der Vertikalen halten können. Papa musste es immer wieder versucht haben. Immer wieder vergeblich.
    Ich verkniff es mir, ihn darauf hinzuweisen. Ich rollte den Baum von ihm weg und half meinem Vater auf, der sich umständlich und unter undefinierbarem Gestöhne zu erheben versuchte. Die Leiter, auf der er gestanden hatte, um den Baum sozusagen von oben in die aufrechte Position zu dirigieren, hatte beim Wegschlittern auf dem Parkettboden eine Schleifspur hinterlassen. Dem Baum war natürlich nichts passiert – diese Hundertfünfzig-Euro-Tanne mit dichtem, griffigem Nadelwerk hätte man ein Dutzend Mal umkippen können, außer dass sie mehr Blessuren davongetragen hätte als zwei oder drei umgeknickte Nadelchen. Ein Prachtexemplar,

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