Weihnachten mit Mama
erboste, je öfter sie das machte. Und kein noch so entnervtes »Nein!« oder gebrülltes »Am besten ohne dich!« hielt Mama davon ab, alle paar Minuten die Tür erneut zu öffnen, eine ihrer unsinnigen Fragen zu stellen, dann brüsk abgefertigt zu werden und mehr oder weniger beleidigt die Tür wieder zu schließen.
»Papa stellt den Christbaum auf!«, verkündete sie dann mit verschwörerischer Miene, als sei dies nicht jedermann klar, der noch im hintersten Winkel der Wohnung Zeuge der lautstarken Flüche und Schimpftiraden meines Vaters wurde. Ich war feige genug, die Tür nicht zu öffnen, sondern so fasziniert durchs Schlüsselloch zu linsen, als entledige sich in dem winzigen Blickfeld, das sich mir auftat, die hübsche Studentin aus der Wohngemeinschaft im Haus gegenüber ihrer überflüssigen Kleidung. Lächerlich, ich gebe es zu, und feige obendrein. Aber ich wusste nur zu gut, dass mein Vater sich nie und nimmer helfen lassen würde, auch nicht von mir. Es war seine ureigene Domäne, seit Jahrzehnten, der Christbaum ist immer nur von ihm aufgestellt und geschmückt worden, von ihm allein. Und nur er nahm dann am Heiligabend mit unübertroffen selbstgefälliger Miene die Huldigungen der Familie entgegen, wenn der Baum in voller Pracht erstrahlte und tatsächlich kaum anders als ein Meisterwerk altdeutscher Baumdekorationskunst genannt werden konnte.
An diesem Tag nun ging diese hausherrliche Pflicht keineswegs ohne Geräusche ab; Tempo, Frequenz und Lautstärke der Unmutsbekundungen wuchsen proportional mit den wohl offensichtlichen Fortschritten in der Behängung mit all dem Tand und Tinneff, Flitter und Firlefanz, der sich über die Jahrzehnte in den »Weihnachtskisten« angesammelt hatte und Jahr für Jahr wieder hervorgekramt wurde. Irgendwann hatte sich die oberste Familienleitung darauf festgelegt, den Baum »traditionell« und »nostalgisch« zu schmücken, also nicht den jährlich wechselnden, teilweise skurrile Blüten treibenden Moden zu folgen, sondern sich an das Bewährte und Vertraute zu halten. Folglich gab es bei uns keine rosa oder lilafarbenen Bäume mit überdimensionalen Kugeln und Glasperlenschnüren, die man unverändert auch zum Christopher’s Street Day hätte mitführen können. Und auch keinen Traum in Weiß mit Watte oder künstlichem Schnee und alles weiß, weiß, weiß – als gelte es, den Baum in der Firmenzentrale eines Waschmittelproduzenten zu schmücken.
»Der Baum«, wie er bei uns einfach und respektgebietend genannt wurde, war vielmehr seit jeher, das muss ich zugeben, ein das Herz rührendes, Glanz in Kinderaugen zauberndes, pures Wohlgefühl verströmendes Gesamtkunstwerk, von der funkelnden Spitze über den Rauschgoldengel, das Holzspielzeug, die alten roten Kugeln, die goldenen Kerzenhalter über luftig im Grün wirbelnde Engel bis zu mit dem Schlitten das Tannengrün durchkreuzenden Weihnachtsmännern. Kein Lametta, kein Flitter, keine modischen Accessoires. Unser Baum ist von sattem Grün mit roten und goldenen Farbtupfern, bevölkert von unzähligen Figürchen und Emblemen. Und roten Schleifen, die – das gibt sogar der ansonsten kitschresistente Robert zu – das Tüpfelchen auf diesem riesigen i sind. Die Dekoration des Baums besteht aus gefühlten zweitausendfünfhundert Einzelteilen, was fraglos übertrieben ist. Doch würde sich jemand die Mühe machen zu zählen: Zwei- bis dreihundert Einzelteile sind es sicherlich, die mein Vater allweihnachtlich in mühevoller Kleinarbeit und mit strengem Sinn für Propor-
tion und Harmonie wie ein Magier an den Baum zaubert. Zum Schluss werden nicht weniger als fünfzig rote Kerzen verteilt, die in stiller Andacht angezündet werden, bis »der Baum« dann in vollem Lichterglanz erstrahlt. Und mein Vater das Riesenzündholz früher von seiner Jüngsten, der kleinen Dorle, ausblasen ließ – was diese anfangs nie schaffte, mochte sie sich beim Pusten auch noch so sehr anstrengen.
Angesichts der unüberhörbaren Geräuschkulisse aus dem Salon wurde Mama unruhig, doch nach der letzten Abfuhr wagte sie es nun nicht noch einmal, die Tür zum Weihnachtszimmer auch nur einen Spalt weit zu öffnen. »Schau du doch mal nach«, forderte sie mich auf.
»Meinst du, ich bin lebensmüde?«
»Stell dich nicht so an, Buberl. Du wirst doch deinem Vater mal helfen können.«
»Mutter, begreif es doch endlich: Er will keine Hilfe. Von dir nicht, von mir nicht … von niemandem.«
So leicht ließ sich meine Mutter nicht
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