Weihnachten mit Mama
eine ganze Region in Schutt und Staub legt, hätte nichts Dramatischeres einfallen können. Was dort auf fatal eingestellter höchster Stufe, in Unter- und Oberhitze samt heißer Umluft fröhlich dem Heiligabend entgegengeschmort hatte, lag nun nur noch als etwas Nichtidentifizierbares auf dem großen Blech. Zwei zerfallene, verkohlte Torsi, zwei Gerippe, eines schauerlicher als das andere. Alles andere war grau, grau, grau … Ich muss zugeben, nie in meinem Leben eine so beeindruckende Palette an Grautönen gesehen zu haben.
Das war’s mit Hannah und ihren Schwestern . Mit dem knusprigen, goldgelben Festtagstruthahn von amerikanischen Dimensionen. Unsere lieben Turkeys waren von uns gegangen, definitiv. Friede ihrer Asche!
Die Katastrophe war perfekt.
Die Wohnungstür ging. Mama kam hustend herein.
»Was … was ist denn hier los?!«
Als sie die Küche betrat und mich vor dem offenen Ofenrohr sah, mit vor Rauch geröteten Augen, trat sie auf mich zu, legte einen Arm um mich und versank wie ich in den sprach- und fassungslosen Anblick des Desasters.
»Das glaube ich nicht!«, flüsterte sie. Sie war so entsetzt, dass sie glatt vergaß, gleich nach dem Schuldigen zu rufen und ihn nach Strich und Faden auszuschimpfen. Oder sich, was angemessener gewesen wäre, selbst anzuklagen.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Hannahs Truthahn«, sagte ich.
»Und was … was … was sollen wir jetzt auftischen?« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »In nicht mal fünf Stunden?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Kannst du mir das vielleicht verraten?«, fügte sie hinzu und wandte sich kopfschüttelnd ab.
Ich streifte die Topfhandschuhe ab. Langsam, um Zeit zu gewinnen. Zeit, die ich nicht hatte. Nicht nur die Frage, die ganze Aufgabe, einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden, war an mich gestellt worden. Einfach so. Ich … ich … war der Schuldige. Ich hatte nicht einmal auf einen Truthahn im Backrohr achtgeben können.
Die Tür ging auf und Papa steckte den Kopf herein. Der Rauch, der durch die Wohnung zog, musste schließlich auch sein Bureau erreicht haben. Es war alles so offensichtlich, dass er keine weitere Frage stellte oder irgendeine Bemerkung machte, sondern nur ganz leise die Tür hinter sich schloss. Hier gab es nichts für ihn zu tun. Sein Vertrauen in seinen Erstgeborenen war grenzenlos.
Mama hatte sich an den Küchentisch gesetzt und ihr Kinn auf beide Handflächen gestützt. Die personifizierte Ratlosigkeit. Ratloser war nie eine Frau. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Immer wieder.
Ich riss mich von dem Anblick des verkohlten Getiers los und straffte mich. Jetzt war Krisenmanagement gefragt. Die höchste Kunst desselben, unter verschärften Bedingungen. Die Uhr lief. Unerbittlich. Countdown to Christmas . Es war Heiligabend. Nachmittag. Alle Geschäfte hatten geschlossen, München fiel in seinen Weihnachtstraum. Schnee rieselte vom Himmel und überzog alles noch einmal mit Puderzucker. Es würde eine Bilderbuchweihnacht geben.
Mit belegten Broten auf Mamas Geburtstagsfest.
Nein!
Da sah ich, dass meiner Mutter Tränen über die Wangen liefen. Sie verzog nicht schmerzvoll oder dramatisch das Gesicht, sie blieb vollkommen bewegungslos. Nur die Tränen liefen. Sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Es war ein so lautloses, so wehevolles Weinen, dass es mir schier das Herz zerriss.
»Ach, Mama …«, sagte ich. Ich fand kein tröstendes Wort.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie tonlos und so leise, dass ich sie kaum verstand.
»Jetzt muss Plan B her«, sagte ich und strich ihr übers Haar.
Sie blickte mich an, mit tränenverhangenem Blick. Bambi im Todeskampf hätte mich nicht stärker rühren können.
»Was ist denn Plan B, Buberl?«
»Keine Ahnung, Mama. Keine Ahnung. Noch nicht. Gib mir fünf … zehn Minuten. Ich muss nachdenken.«
Die Minuten tropften aus der Zeit, im Salon, unter dem Weihnachtsbaum, in dessen Nähe ich mich in den Ohrensessel gesetzt hatte, als könnte ich mir von diesem kommoden Möbelstück Hoffnung und Inspiration erwarten. Es klingelte. Bestimmt war es Francis, der Butler. Mein Blick schweifte über die festlich gedeckte Tafel, über das weißgoldene Porzellan, die Tischdekoration in Grün und Rot, über die liebevollen Platzkärtchen und die Menükarten. In wenigen Stunden würden hier vierzehn erwartungsfrohe Festgäste Platz nehmen. Francis würde das Amuse bouche servieren, den Wein einschenken, die Suppe auftischen. Mit weißen Handschuhen.
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