Weihnachtsengel gibt es doch
werden.“
Dieses Plappermaul, dachte Maureen. Ich werde sie umbringen.
„Stimmt es?“, fragte Eddie.
„Jeder hat eine Vergangenheit“, wich sie aus. Wobei ihr selber klar war, dass das vielleicht zu kryptisch klang. Wenn sie ihm nur ein bisschen erzählte, wäre er vielleicht zufrieden und würde keine weiteren Fragen mehr stellen. „Renées Aussage bezog sich auf mein Junior-Jahr am College. Ich habe mein ganzes Leben lang gespart, um in Paris studieren zu können. Mein Hauptfach war Theater. Ich habe das Spielen mit Leib und Seele geliebt. Nach dem College wollte ich nach New York ziehen, dort als hungernde Künstlerin leben und irgendwann die Welt im Sturm erobern. Als das nicht funktioniert hat, habe ich den Plan aufgegeben, meinen Collegeabschluss gemacht und bin nach Avalon zurückgezogen, um Bibliothekarin zu werden.“
„Ich kann mir Schlimmeres vorstellen.“
„Ich sage ja auch nicht, dass es schlimm ist. Es war nur ein ziemlich krasser Wechsel vom Theater zur Buchwissenschaft.“
„Was war der Anlass, die Bühnen der Welt gegen ein Lebenals Bibliothekarin einzutauschen? Und warum schließen diese beiden einander aus?“
„Das tun sie nicht per se, aber für mich. Es ist eine lange Geschichte.“ Sie zog die Schultern hoch und schob das Kinn tiefer in den Schal. Sie hatte bereits zu viel gesagt. Was ihr passiert war, war nicht so sehr eine lange, sondern vielmehr eine sehr persönliche Geschichte. Eine schmerzhafte noch dazu. Eine Geschichte, die sie noch niemandem in allen Einzelheiten erzählt hatte. Keiner Menschenseele.
Sie kehrten zum Van zurück, und Eddie verstaute die Schneeschuhe. Während der Fahrt nach Hause schaute Maureen aus dem Fenster. Sie wusste, dass sie diesen Tag niemals vergessen würde. Die Schönheit der Landschaft, die Kälte, die unverdiente Intimität, die sie mit Eddie verspürt hatte.
Am Stadtrand hielt er an einem Kaffeestand an. „Ich sag Ihnen was: Ich hole uns eine heiße Schokolade. Und wenn ich zurück bin, reden wir. Also Sie.“
„Ich habe nie zugestimmt …“
„Doch, dass haben Sie, Moe. Ich bin gleich wieder da.“ Sie standen am Rand der River Road, die sich zurück in die Stadt schlängelte.
Der Mann hatte eine unverschämte Art, ihr Worte in den Mund zu legen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, sich ihm gegenüber zu öffnen. Ihm einen kleinen Einblick in ihre Vergangenheit zu gewähren. Früher war sie unbeschwert und Menschen gegenüber offen gewesen. Immerhin hatte sie Schauspielerei als Hauptfach am College. Das war das extravaganteste, emotional riskanteste Hauptfach, was man nur wählen konnte. Sie erinnerte sich, dass die Übungen in ihrer Theaterklasse Vertrauen und persönliche Geständnisse beinhalteten. Sie hatte es geliebt. Doch dann war etwas passiert, was alles verändert hatte.
Vielleicht könnte sie Eddie ihre Geheimnisse anvertrauen. Er war weder ein Mitglied der Familie noch ein Freund. Nurein … Mitarbeiter. Eddie Haven war jemand, den sie getroffen hatte, als ihre Leben sich ein- oder zweimal überschnitten. Er hatte keine Macht über oder Einfluss auf sie. Ihm von ihrer Vergangenheit zu erzählen wäre so, wie einem harmlosen Fremden gegenüber zu beichten. Er war jemand, der vielleicht ihre emotionale Last heben und wegtragen könnte. In diesem Sinne war das sich ihm Öffnen ein wenig, wie zu einem Therapeuten zu gehen, nur billiger.
Doch es war kein Therapeut gewesen, der sie in der Bücherei geküsst hatte. Sie zählte darauf, dass sie beide den Vorfall vergessen würden. Und auch den Augenblick oben auf dem Hügel, als sie sich beinahe noch einmal geküsst hätten.
Aber wo sollte sie nur anfangen? Vielleicht mit der körperlichen Manifestation ihres Geheimnisses, die man nur sehen konnte, wenn sie badete oder einen winzigen Bikini trug. Vor Jahren hatte sie sich aus einem Impuls heraus und auf das Drängen ihres französischen Liebhabers hin ein Tattoo stechen las sen.
4. TEIL
Paris ist eine Stadt des Frohsinns und Vergnügens, in der vier Fünftel der Einwohner an Trauer sterben.
Nicolas de Chamfort, 1741-1794
15. KAPITEL
E s sollte genau hier sein, wo ich dich so gerne küsse“, hatte Jean-Luc gesagt und die Stelle mit seiner Zunge markiert.
Als Collegemädchen, das zum ersten Mal in Paris war, hatte Maureen sich ganz schwindelig gefühlt, von so einem attraktiven, gelehrten, unglaublich französischen Mann beachtet zu werden. Sie hatten sich im Skulpturengarten des Musée Rodin
Weitere Kostenlose Bücher