Weihnachtsgeschichten am Kamin 02
Kindern waren inzwischen Männer geworden, deren Gesichter von Krieg und Entbehrungen gezeichnet waren. Da stand ich nun und machte mich mit dem traurigen Rest von 27 Mitschülern vertraut:
Zimmi — die alte Tomate (weil immer etwas faul bei ihm war), ein Hans Dampf in allen Gassen-, jetzt ganz auf Lebemann, dank seiner Anstellung beim Amerikaner.
Torz — unser Paganini und Mädchenbetörer. Nach unserer damaligen Auffassung ein großer Geiger vor dem Herrn. Seltsamerweise noch immer Junggeselle und jetzt Versicherungskaufmann. Für mich erstaunlich, daß es so etwas schon gab.
Walter - der Träumer, jetzt Fuhrunternehmer für alles, was sich bewegen ließ.
Willy — damals schon unser Athlet, jetzt Tallyman im Hafen und darum auch recht wohlgenährt.
Babsy — unser Piratenkapitän. Er hatte während unserer Schulzeit immer einen alten Fischerkahn für uns zur Verfügung, jetzt arbeitsloser Offizier der Kriegsmarine.
Klaus — unser langer Lulatsch und daher bei jedem Ballspiel unser Mannschaftsspielführer.
Theo — unser Fußballspieler. Also, wenn es damals schon eine Bundesliga gegeben hätte, wäre er bestimmt ein Star geworden. Nun aber war er Fahrdienstleiter bei besagter Vorortbahn.
Er war der einzige, der aus dienstlichen Gründen an unserem Überfall nicht teilnehmen konnte, aber dafür hatte er uns die Plätze reserviert.
Es war ein Tag vor dem letzten Advent, und der Schnee rieselte seit Stunden in dicken, großen Flocken, so, als wolle der Himmel uns davon überzeugen, daß es auch noch Dinge im Überfluß gab.
Nach unserer Ankunft bahnten wir uns mühsam unseren Weg. Das Schulhaus war bald gefunden, und wir hatten uns unterwegs bereits einen Plan für die Überraschung ausgedacht. Danach blieben vorerst alle anderen in Deckung, und nur Zimmi und ich setzten den Türdrücker in Bewegung.
Bald darauf stand er vor uns, und ein komisches Gefühl kam in mir hoch. Auch er war ja schließlich 20 Jahre älter geworden. Sein Haar war inzwischen weiß, aber seine Haltung nach wie vor achtunggebietend. Sein «Guten Tag, meine Herren» ließ meine wohlgesetzte Rolle fast zum Teufel gehen.
«Guten Tag — , Herr Wefing?»
«Ja, der bin ich. Was kann ich für Sie tun?»
«Wir kommen auf Ihre Anzeige im Kurier wegen der Geige, die Sie verkaufen wollen.»
«Das muß ein Irrtum sein. Ich habe gar keine Geige zu verkaufen.»
«Ja, aber Sie haben doch annonciert!»
«Ich weiß von keiner Anzeige. Wann soll denn das gewesen sein?»
«Heute!»
«Einen Augenblick, meine Herren. Ich hole sofort die Zeitung.»
Kurze Zeit später erschien er wieder und drückte mir die Zeitung in die Hand, damit ich ihm die Anzeige zeigen könne. Ich schlug wahllos den Anzeigenteil auf, hielt meinen Zeigefinger auf irgendeine Anzeige und las laut vor: «Gut erhaltene Meistergeige preisgünstig abzugeben...» usw. usw.
Seine Augen wurden immer größer. Voller Staunen nahm er mir die Zeitung wieder aus der Hand und schaute auf die angegebene Stelle. Dann sah er mich an, und ein Erkennen ging über seine Züge. Er ergriff mein Ohrläppchen und sagte zu mir: «Wim, du alter Gauner, schämst du dich nicht, deinen alten Lehrer so hinters Licht zu führen?», und dann schaute er meinen Begleiter an und sagte mit altgewohnter Strenge im Ton: «Natürlich, der Zimmermann muß auch wieder dabeisein. Ihr Schlingel, ihr!», und dann schloß er uns gerührt in seine Arme. Zimmi ging darauf zur Tür, öffnete sie weit, und herein stolzierte der Rest mit einem Blumenstrauß bewaffnet, den Zimmi mit amerikanischen Zigaretten organisiert hatte.
Er kannte uns alle noch, und über die Kriegsgeschehnisse hinweg hatte er die Namen nicht vergessen. Auf unsere Bitte hin führte er uns in ein Klassenzimmer, und wir nahmen in den viel zu kleinen Bänken Platz. In der Ecke stand ein mager geschmückter Weihnachtsbaum, der in uns alte Erinnerungen an einen überreich behangenen Stammesgenossen wachrief, der früher unsere Klasse in der Vorweihnachtszeit zierte.
Kein Wunder, daß jeder seine Geschichte zum besten geben mußte. Als er unser kleines Häuflein überblickte, lag eine stumme Frage in seinen Augen, und unter dem Vorwand, uns seiner Frau vorstellen zu wollen, verließ er schnell den Raum. Wir haben noch eine ganze Weile mit diesem prächtigen Menschen und seiner lieben Frau zusammengesessen, und alte, längst vergessen geglaubte Schulstreiche wurden wieder lebendig.
Als die Stunde des Abschieds kam, gingen wir mit dem festen
Weitere Kostenlose Bücher