Weihnachtsgeschichten am Kamin 02
Sowjetunion, der auch Bjelo-(Weiß-)rußland genannt wurde. Das weiße Rußland, das für uns Soldaten der östlichen Mittelfront im Sommer 1944 zum Schicksal geworden war. Tausende hatten das Los der Gefangenschaft auf sich nehmen müssen. Namen wie Bobruisk, Mogilew und Witebsk wurden zum Fanal des sowjetischen Sieges und zur schmerzlich-ahnungsvollen Gewißheit eines unabwendbaren Untergangs des eigenen Vaterlandes.
Wir waren in einem Lager unweit von Minsk. Wir, das waren damals etwa 8000 deutsche Kriegsgefangene, Insassen des sogenannten Waldlagers nahe der bjelorussischen Landeshauptstadt. Nur wenige von uns dachten in diesen Adventwochen an das bevorstehende Weihnachtsfest. Kaum einem stand der Sinn nach vorweihnachtlichen Gedanken. Der Inhalt unseres Gefangenendaseins hieß Hunger. Seit Tagen gab es nur noch gekürzte Brotrationen und dünne Suppen. Bis auf wenige, die im Lagerbereich tätig waren, ging keiner zur Arbeit. Der Einsatz der Gefangenen war noch nicht organisiert. Die Sowjets hatten in diesen Wochen andere Probleme und Sorgen.
Das war die große Zeit der Träumer, die tagaus, tagein auf den Holzpritschen lagen und in einer Art apathischen Halbschlafs dahindämmerten. Die Ok-Baracken — dort hausten die körperlich völlig Heruntergekommenen, die Kameraden «ohne Kraft» — waren seit langem überfüllt, und im Lagerhospital, einem alles überragenden Steinbau, lagen zeitweise fünf Kranke in zwei Betten. Das war auch die Zeit der ewigen Köche und Bäcker, die in Gedanken und Erzählungen die herrlichsten Speisen servierten und phantastische Menüs zusammenstellten.
So gingen wir der Weihnacht des Jahres 1944 entgegen. Die Hoffnung, unsere Lage könne sich bessern, schwand dahin.
Am Tag vor Weihnachten gab es Machorka; fünf Gramm für jeden Tag; für zehn Tage ein Päckchen. Papier zum Drehen war auch da. Jemand brachte sogar eine «Prawda», sie war besonders gut. Besser aber war der Tabak; er betäubte den Hunger und betrog den Magen. Das war wichtig, denn das Brot blieb weiter aus.
Am Morgen des 24. Dezember erhielt jeder nur 200 Gramm Brot, nasses Brot. Dazu einen dreiviertel Liter wässerige Suppe. Die Stimmung der Landser hatte ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. Pessimisten und Schwarzseher sollten offenbar recht behalten.
Als an diesem Tag die Dunkelheit hereinbrach und die Abendsuppe mehr getrunken als gelöffelt war, hatten wir nur noch das Bedürfnis, uns so schnell wie möglich, jeder auf seinem Pritschenstück, unter dem Mantel zu verkriechen. Nur ein paar meinten es anders. Sie wollten die Weihnacht trotz allem nicht gedankenlos vorübergehen lassen. Darum stiegen zwei von ihnen — versehen mit einem alten, arg verkommenen «Fuchsschwanz» — über den inneren Zaun. Sie erreichten unbemerkt den nahen Lagerwald. Es war mühsam, mit den Holzpantinen die mächtige, naßkalte Fichte zu erklettern. Die kleine Säge, an einem dünnen Strick um den Hals befestigt, erschwerte das Vorhaben. Aber schließlich schaffte es der Junge. Er hatte einen Baum mit zwei Spitzen gesucht. Eine davon mußte fallen. Sie zerrten die Baumspitze über den Draht in die spärlich erhellte Baracke. Dort ließ die Wirkung eines grünen Tannenbaums nicht lange auf sich warten. Aus allen Ecken tauchten plötzlich Gesichter auf, und es dauerte nur kurze Zeit, bis auf dem selbstgezimmerten Barackentisch ein an die zwei Meter hoher Weihnachtsbaum stand. Zwei aus leeren Konservenbüchsen gebastelte Ölfunzeln an seinem Fuß gaben ihm einen Hauch von Festlichkeit. Zahlreiche kräftige Tannenzapfen waren sein natürlicher Schmuck. Und als dann der Barackenälteste mit einer brennenden Kerze in den Raum trat und sie an den Baum heftete, da schien die Weihnacht doch zu uns gekommen zu sein.
Die Landser hoben die Köpfe. Sie richteten sich von ihren hölzernen Lagerstätten auf und starrten in den Glanz des Lichtes. Ein Alter sprach das Gebet vom täglichen Brot und von der Schuld und von der Vergebung. Die meisten schienen solches lange nicht mehr gehört zu haben. Einige falteten verstohlen die Hände. Einer fing zu singen an. Andere stimmten ein. Erst zögernd, dann stärker, lauter: Stille Nacht, Heilige Nacht! Es klang traurig und wehmütig und freudvoll, beglückend zugleich. Schien doch dieser Augenblick alle der Wirklichkeit zu entrücken. Sie waren daheim. — Plötzlich zerrissen vom Barackenflur her laute Schritte diese Träume. Das Singen wurde zaghafter, leiser, brach ab. Mitten unter uns, in dem
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