Weihnachtsgeschichten am Kamin 02
schon einen «Perron» (Bahnsteig). Wir konnten so unser Wägelchen bis an den Zug bringen, natürlich noch ein alter schnaubender, pustender, zischender Dampfzug mit Wagen von 1914/ 15. Zwei Männer aus dem Zug und unser alter lieber Stationsvorsteher halfen uns, eine mordsgroße Kiste auf unser Wägelchen zu hieven. Dann zogen wir los. Zu Hause angekommen, machten wir hinter dem Haus im Garten halt, die Kiste wurde ausgepackt und durch die Hintertür ein... Grammophon hineingebracht. Nicht so ein altes Trichter-Dings, nein, eine ganz tolle Grammophon-Truhe! Damals der letzte Schrei!
Die großen Geschwister brachten das Ding, nachdem Mutter in die Küche geschickt worden war, ins Wohnzimmer. Wir Kleinen durften natürlich noch nicht mit hinein, es war das Weihnachtszimmer! Wir drückten uns irgendwo im Haus herum, bis das Glöcklein klingelte. Ich glaube, liebe Kinder, eure Augen leuchten heute noch genauso beim Anblick des Tannenbaums mit seinen brennenden Kerzen!
Bruder Alfred setzte sich ans Klavier, und wir sangen die alten Weihnachtslieder: «O du fröhliche», «Vom Himmel hoch», «Es ist ein Ros entsprungen», «Stille Nacht, heilige Nacht», und wir Kleinen schielten heimlich unter den Tannenbaum, ob und was wohl von unseren Wunschzetteln dabei war! Dann mußten wir drei Kleinen jeder ein Gedichtchen aufsagen. Da ich im April aufs Gymnasium gekommen war und Französisch als erste Fremdsprache hatte, schmetterte ich heraus: «L’arbre de Noël! Mon beau sapin, rois des forest, que j’aime ta verture...» («O Tannenbaum» auf Französisch) und erntete tosenden Beifall! Was wir alles den Eltern brachten, weiß ich nicht mehr, nur Bruder Alfred, frischgebackener Dr. med., überreichte dem Vater ein Schreibheft mit Texten und Zeichnungen über moderne Anatomie (ein Schmunzelheft, selbst fabriziert), um Vätern darzulegen, wie sich die moderne Medizin seit 1890, als Vater Dr. med. wurde, verändert hat. Vater schritt dann zur Grammophon-Truhe und legte als erstes Mozarts Krönungsmesse auf, dann folgten Lieder von Heinrich Schlusnus, Caruso und Lotte Lehmann. Mein Geschenk habe ich total vergessen, wahrscheinlich war’s was zum Anziehen, das ohnehin schon längst überfällig war.
Liebe Mädel und Jungen, von allen, die damals dabei waren, leben nur noch die Esther, mein kleiner Bruder Fritz und ich. Alle anderen schauen mit den Englein vom Himmel und freuen sich zum Heiligen Abend mit euch, so wie ich mich die vielen Weihnachten gefreut habe, im Frieden, im Krieg an der Front und im Lazarett, in Gefangenschaft und wieder in Freiheit, so, wie ich mich auf den kommenden Heiligabend freue, wenn sich die Lichter der Kerzen in euren Augen und in denen meiner Enkelkinder spiegeln.
Anneliese Böning
Es gibt doch einen Weihnachtsmann
Es ist jetzt fast 35 Jahre her, und es war Heiligabend. Ich war elf Jahre alt und hatte noch vier kleinere Schwestern.
Noch zwei Tage zuvor hatte ich gehört, wie meine Eltern sich über das Fest unterhielten und daß doch gar kein Geld für Weihnachtsgeschenke übrig wäre. Mein Vater war schon seit langer Zeit arbeitslos, und es reichte so eben zum Leben. Feuerung und Fleisch müßten auch noch gekauft werden.
Ich hatte das ja schon länger mitbekommen, und für mich war es auch nicht so schlimm. Aber meine kleinen Geschwister hatten schon seit Tagen ihre Wünsche geäußert. Alle wollten so gern eine schöne Puppe mit Schlafaugen und Mamastimme, Malstifte und einen großen bunten Teller.
Immer wieder hatten sie meine Mutter damit gelöchert. Ich konnte es schon nicht mehr hören, aber sie wußten ja nichts von den Sorgen meiner Eltern.
So habe ich sie nach dem Mittag fertiggemacht und bin mit ihnen spazierengegangen. Nur das Baby blieb zu Hause. Unterwegs erklärte ich ihnen, daß der Weihnachtsmann nicht zu allen Kindern kommen könne. Auch zu uns nicht, denn die Eltern müßten ihm ja erst das Geld für die Geschenke schicken, denn er könne doch nicht alles von seinem Geld bezahlen. Und wir hätten nun mal sehr wenig, weil der Papa doch keine Arbeit bekam. Er hatte doch eine verkrüppelte Hand aus dem Krieg behalten.
Meine Geschwister waren sehr traurig darüber, denn sie konnten das ja noch nicht so verstehen. Ich versprach ihnen, daß ich am Abend eine schöne Geschichte erzählen würde, wenn sie nicht mehr nach dem Weihnachtsmann fragten. Zu Hause haben wir dann noch alle ein Bild für unsere Eltern gemalt.
Am späten Nachmittag kam mein Vater nach Hause. Er war
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