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Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Richter , Stubel,Wolf-Dieter
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Essens.
    Die Joswigs wohnten in einem einzigen Raum, der zugleich Schlafzimmer, Küche, Versammlungsraum, Spielzimmer für halbverhungerte Flüchtlingskinder und Schauplatz für bescheidene okkultistische Handlungen war. Zu Minna kamen all die Frauen, die verzweifelt auf Nachricht warteten von ihren Männern, Söhnen, Vätern oder anderen Familienmitgliedern, die verschollen waren, abhanden gekommen in den Wirren dieser bösen Zeit.
    «Minna — lebt er noch? Ach Minna, ich halt es nicht mehr aus, so ganz ohne Nachricht, Monat für Monat!»
    «Haste was von ihm? Äin Bild, äin Haar?»
    Dann saß Minna am Tisch, über das Foto irgend so eines armen Menschen gebeugt, ließ einen Ring über dem Bild pendeln.
    «Wenn er sich bewegt, kriegste Beschäid, kräist er, noch besser...»
    Der Ring kreiste immer, niemand ging ungetröstet weg. Um über das Schicksal ihres eigenen verschollenen Sohnes etwas zu erfahren, brauchte Minna solche Hilfsmittel nicht.
    «Der Jeorch lebt», sagte sie entschieden, wozu brauchte sie da einen kreisenden Ring? An Minna ging kein Weg vorbei.
    «Ich jehe nich zur Hochzeit mäiner Tochter», heulte die Frödrichsche aus Elbing, «ich hab räin jarnuscht anzuziehen.»
    Das stimmte. Sie hatte wirklich nur den Fetzen, den sie auf dem Leib trug. Die Frödrichs hausten in der guten Stube bei Holthusens, acht Mann hoch in einem einzigen Raum mit schweren, grünsamtenen Vorhängen, die Holthusens waren reich. Ella Frödrich sah bei der Hochzeit direkt mondän aus in ihrem grünsamtenen Kleid, von Minna genäht. Ob die alte Holthusen Verdacht schöpfte? Vielleicht, zumal Minna die goldenen Troddeln des Gardinenbandes der Ella an den Busen genäht hatte, eine rechts, eine links.
    «Wir sollen bei Kruses räumen, Minna, das geht doch nicht! Jetzt mitten im Winter und wo der Opa so krank ist», jammerte die bucklige Ladwig, verantwortlich für elf Menschen.
    «Wart, ich komm», sagte Minna. Ladwigs blieben wohnen.
    «Das Herrmännchen hat die ganzen Bezugsscheine verloren. Mein Gott, Minna, was machen wir bloß?»
    «Ich jehe zum Sekretariat, wird schon werden.» Es wurde.
    Weihnachten feierten wir bei Minna. Wir, und bestimmt noch drei, vier andere Familien. Wir hatten alle nichts, aber Minna beschenkte alle Kinder: Püppchen aus Stoffresten, Glanzbilder, Ketten aus Obstkernen. Der Raum duftete nach Bratäpfeln und Tannenzweigen, und wenn Minna auswendig rezitierte: «Und es begab sich zu der Zeit, da ein Jebot ausging...», dann lag eine große Feierlichkeit über der Stube. Sogar die Erwachsenen hatten rote Ohren, und die waren bestimmt nicht nur auf Gustavs Selbstgebrannten zurückzufuhren. Wir Kinder saßen frischgeschrubbt, atemlos, die Leibchen und kratzenden Wollstrümpfe vergessend, ‘wenn Minna erzählte. Sie kraulte dabei ihren einäugigen, zerzausten Kater.
    «Er is wie mäin Jeorch, träibt sich rum, macht nuscht wie Unsinn, aber äin joldenes Herz.»
    Das war wohl auch der Abend, an dem meine Mutter, unterstützt durch die anderen Frauen, so lange in Minna drangen, bis sie ihren Ring über Georgs Bild baumeln ließ. Sie hatte sich lange gesträubt.
    «Is doch man bloß äin Späßchen», meinte die Frödrich-sche, aber Minna schüttelte den Kopf. Ich sehe Minna noch, wie sie mit blassem Gesicht ihren Ehering über dem Foto ihres Sohnes hängenließ. Der Junge auf dem Foto lachte, Minna blieb still, und schließlich weinte sie. Der Ring wollte nicht kreisen.
    «Aber Minna, das ist doch alles nur Aberglaube! Du weißt doch selbst, wie oft du nachgeholfen hast, um jemanden zu trösten», beschwor meine Mutter die aufgelöste Minna. Aber die blieb dabei:
    «Er lebt, bloß werd ich ihn nie mehr sehn.»
    Es war unser letztes gemeinsames Weihnachtsfest. Minna und Gustav wurden, genau wie wir und die meisten anderen, 1950 umgesiedelt, wir in die Pfalz, Joswigs in irgendein Dorf im Württembergischen. Kurz bevor der Zug abfuhr, verschwand Minnas Kater, sie mußte ohne ihn fahren.
    1957 rief Minna vor Weihnachten bei uns an:
    «Mein Jeorch kommt zum Fest nach Haus. Stell dir vor, Anna, er lebt schon seit Jahren in Südafrika. Er kommt mit Frau und Kind.» Minna weinte herzzerreißend, meine Mutter freute sich mit ihr, sie hielt Minnas Tränen für Freudentränen.
    Minna starb am 20. Dezember. Ihr Sohn traf einige Stunden nach der Beerdigung ein. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Von Minna träume ich manchmal.

    Rosemarie Windus

Göttinger Vorweihnacht

    Die Kinder sind zum Weihnachtsmarkt gefahren.

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