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Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Richter , Stubel,Wolf-Dieter
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Ordnung in ihr Leben zu bringen. Unsere Sieger kamen aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und waren gar nicht so unfreundlich; nur verstanden sie kein Wort Deutsch und die Bürger von F. nur mäßig Englisch.
    Der Rest war für mich sozusagen vorprogrammiert. Sobald ich beobachtete, wie schwer es die beiden Nationen auch sprachlich miteinander hatten, pflanzte ich mich vor dem Rathaus auf, in der Nähe der diversen US-Posten, und schmeichelte mich als Dolmetscherin ein. Was ich dabei radebrechte, hätte meinen Englischlehrer womöglich ins Grab gebracht, aber die Amis fanden es brauchbar und belohnten mich mit Hershey-Schokoriegeln und Chewing Gum satt.
    Bis eines Tages Bill ein Formular abholen mußte. Bill war zwei Meter lang, hatte rund zwei Meter Taillenumfang und wog so seine zwei Zentner. Bill war Koch im Hauptquartier und fand, ich sei viel zu unterernährt, um bei den Rathausposten rumzulungern.
    Sprach’s, schleppte mich in seine Stabsküche (unsere Turnhalle!), räumte den nächstbesten Tisch leer und servierte mir ein üppiges, dampfendes, soßiges, fettschimmerndes Menü!
    Prompt wurde mir speiübel, und ich fing an zu heulen. Das brachte nun wieder den gutherzigen Bill aus der Ruhe.
    «Sister! Honey! Tell me, why are you crying?» flötete er.
    «I-am-Eva-and-Hanni-is-not-right-and-sister-is-not-right», schluchzte ich, weil mir einfach nicht einfiel, was Geschwister auf englisch heißt.
    «Your sister?» griff Bill eines der wenigen verständlichen Wörter auf. «How many brothers and sisters do you have?»
    Natürlich, jetzt wußte ich’s wieder! Geschwister hieß «brothers and sisters». Wie viele ich hätte? Ich spreizte abwehrend meine tränenbefeuchtete Hand. «I have...»
    «Five brothers and sisters?» rief Bill entsetzt aus. Dann lief er weg, und ich fand mich damit ab, daß ich ihn mit meinem Gejammere vertrieben hatte. Ich war schon fast aus der Turnhalle, da schrie er hinter mir her:
    «Hey, Eva, wait!» Bills obere Hälfte verschwand fast hinter einem Karton, und der war randvoll mit Weißbrotpäckchen, Schokobarren, Milchpulver, Zucker, Süßkartoffeldosen, Erdnußbutter und wer weiß was. Jeweils fünfmal!
    Ich mußte fünfmal laufen, bis ich alles nach Hause geschleppt hatte, und aufpassen sollte ich dabei wie ein Luchs, weil Bill keinen Ärger kriegen wollte. Am ersten Weihnachtstag probte ich «brothers and sisters» mit meinen Klassenkameraden Erni, Sigrid, Paul und Suse. Die ganze Großfamilie genoß von Herzen, daß mein Englisch halt doch nicht so perfekt gewesen war!
    Am Dreikönigstag habe ich es Bill dann gebeichtet. Zusammen mit Erni, Sigrid, Paul und Suse rückte ich an, und das war vielleicht ein Fehler. Bill lachte und schenkte jedem von uns eine Dose Maiskolben. Aber wenige Tage später arbeitete an seinem Platz ein dürrer, abweisender US-Soldat.
    Ich wagte nicht, ihn nach Bill zu fragen. Hoffentlich war es nicht wegen meiner Geschwister...

    Manfred Witte

Minnajoswig

    Minna und Gustav Joswig saßen wie wir und mehrere hundert andere Flüchtlinge fest in einem winzigen Dorf an der dänischen Grenze. Während Gustav fast aus meiner Erinnerung entschwunden ist, sehe ich Minna leibhaftig vor mir: Mitte Vierzig, nicht sehr groß, aber kräftig, das graue Haar straff zurückgekämmt und zu einem dünnen Knoten zusammengefaßt, randlose Brille. Eine unscheinbare Person, nach der sich heute niemand auf der Straße umdrehen würde. Minna konnte wundervoll lachen, so lacht heute niemand mehr. Und es singt auch niemand mehr wie sie lauthals beim Fensterputzen: «Warum wäirst du, kläine Järtnersfrau...»
    Minna und Gustav waren, wie Millionen andere, über das zugefrorene Haff gekommen, einige wertvolle Trakehner im Schlepp. Die Pferde wurden später von Minnas ehemaliger Herrschaft abgeholt, gegen ein Dankeschön.
    «Se waren schon immer jeizich. Zu Hause ham de Dienstboten manches Mal jehungert», sagte Minna achselzuckend.
    «Und da hast du nichts gesagt?» fragte meine Mutter fassungslos.
    «Nej, aber in de Suppe jespuckt hab ich vorm Auftrachen», sagte Minna und lachte über mein entsetztes Gesicht. «Kannste ruhig essen, Manchen, is käine Spucke drin», sagte sie, wenn ich bei ihr aß. Bei Minna aßen ständig Kinder. Die dürren Hellwigs, die Zwillinge von Ebsteins, meine schöne Freundin Rita mit dem Hahnenkamm, ich selbst; Minna hatte immer etwas, und sie gab mit freundlicher Selbstverständlichkeit. Wir Kinder liebten sie, aber nicht nur wegen des

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