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Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Richter , Stubel,Wolf-Dieter
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vorher, welch ein Unterschied zwischen diesem und den vorangegangenen Festen liegen würde. Denn, wenn auch auf nichts in unserer liebenswerten, aber chaotischen Familie Verlaß war, so doch auf die immer wiederkehrende drehbuchhafte Gestaltung des Heiligen Abends. Besonderer Wert wurde auf die strengste Einhaltung aller möglichen Rituale gelegt. So wurde z. B. genau um 6 Uhr abends die Bescherung zelebriert: Auf die Sekunde genau mußten die Kinder das Weihnachtszimmer betreten, die Kleinsten voran, gefolgt von den größeren. Sekunden später wurden die Kerzen angezündet, und ziemlich genau eine Minute nach 6 Uhr wurde «Stille Nacht» gesungen. Mutter begann weitere dreißig Sekunden später zu weinen, um gleich darauf mit ihrem Schluchzen durch das Jaulen des Dackels und des großen Jagdhundes übertönt zu werden, denen unser Gesang anscheinend in den Ohren weh tat. Wir Kinder bekamen regelmäßig gegen Ende der dritten Strophe so das Lachen, daß auch die gestrengen Blicke des Vaters nicht mehr wirkten. Unser Vater — auch das gehörte dazu — war wie immer mit einer von Fischblut verschmierten Hemdmanschette erschienen, weil der Karpfen, um auch wirklich frisch zu sein, erst unmittelbar vor der Bescherung sein kümmerliches Badewannendasein beenden mußte.
    Ebenso wiesen die bunten Teller eine sorgfältig ausgewählte, nie veränderte Mischung aus Quittenbrot, Marzipankartoffeln, weißen und braunen Keksen, einer Tafel Schokolade, Stollen, Nüssen und Obst auf. Einzig mein bunter Teller machte eine Ausnahme, denn auf ihm lag ebenfalls in schöner Regelmäßigkeit ein Ananas-Marzipanbrot von meiner Patentante Mariechen, und in diesem Brot steckte Jahr für Jahr — auch sie liebte weihnachtliche Korrektheit-, zu meiner Freude und zum Neid meiner Geschwister, ein Geldschein. Dieser wurde mit den Jahren im Wert dem Alter jeweils angepaßt, und ich war damit der Reichste unter uns Geschwistern. Von diesem Geld konnte ich mir, sehr zum Leidwesen meines Bruders, gleich nach Weihnachten Silvesterböller, Heuler und Knallfrösche kaufen, die ihn mangels eigener Finanzkraft Jahr für Jahr vor Neid erblassen ließen. Aus diesem Grund wünschte er sich — und das war eine weitere Besonderheit unserer Weihnachtsfeste — ganz dringend und unbedingt ein richtiges Silvester-Böller-Sortiment. Ein solcher wichtiger Wunsch wurde, sofern er bescheiden genug war, nur in den seltensten Fällen verwehrt.
    Unser Weihnachtsfest lief zunächst wie immer ab:
    Vater entzündete die Lichter und anschließend eine Anzahl von Wunderkerzen. Wir sangen «Stille Nacht», Mutter weinte, die Hunde jaulten, und unter dem Weihnachtsbaum lagen sichtbar die dringlichen unbedingten Wünsche:
    Für mich lag da die ersehnte ausgestopfte Ente, für die kleine Schwester ein halbmeterhoher Turm aus dunkelglänzenden Negerküssen und für die große Schwester ein Karton mit den begehrten weißen Mäusen. Für meinen Bruder aber, das erkannte ich mit fachmännischem Blick, lag dort eine fein zusammengebundene Auswahl herrlicher Raketen, Kracher und Frösche.
    Es muß etwa zum Ende der dritten Strophe gewesen sein: Wir schauten alle zu Vater, der mit zwei Stücken Wurst die jaulenden Hunde zum Schweigen bringen wollte. Bei dieser Aktion hatte er wohl — so vermuteten wir später — mit seinem Hinterteil eine der sprühenden Wunderkerzen vom Baum geschüttelt, ohne daß dies einer von uns bemerkt hatte. Ich vernahm nur noch ein kurzes Zischen, als auch schon der erste Böller detonierte und mit diesem Erstschlag ein kurzes, aber heftiges Inferno einleitete, das mir noch heute lebhaft in den Ohren und vor Augen ist. Wie eine Feuerwalze raste das gut verschnürte Feuerwerkssortiment durch das Weihnachtszimmer und nahm dabei gleich meine Ente mit, so daß sie hinterher aussah, als wäre sie in eine Asphaltmaschine geraten. Wir Kinder warfen uns auf Vaters Zuruf «Deckung» auf den Fußboden und zogen den Teppich vor uns als Schutz hoch. Vater versuchte beherzt, mit einer Perserbrücke des durchs Zimmer rollenden Kugelblitzes Herr zu werden. Dabei stieß er einen fremdländischen, fürchterlich klingenden Fluch aus, den er mir erst Jahre später in deutscher Sprache sagen wollte.
    Die Hunde sprangen, wohl in Erinnerung an die letzte Treibjagd, wie rasend durch den Raum — zum Glück entwischten ihnen die in der Zwischenzeit auch aus dem Karton entwichenen weißen Mäuse. Bei einem seiner ersten Hechtsprünge muß Vater auch die Negerküsse übersehen

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