Weihnachtsgeschichten am Kamin 02
«Da kommt Klaus. Er ist mein Freund. Ich habe ihm erzählt, daß Sie auf Montage arbeiten und deshalb selten zu Hause sind.»
«Ach, wie schön», meinte der Mann sarkastisch.
«Hallo», rief Klaus und: «Guten Morgen, Herr Herdinger!» sagte er höflich und ging schnell vorbei.
«Guten Morgen, Klaus», entgegnete der Mann freundlich, dachte aber grimmig, daß er nun nebst Sohn auch einen neuen Namen erhalten hatte.
«Du mußt jetzt erst mal nicht mehr Sie sagen, sondern du, probier es mal.»
Markus schaute den Mann offen an und sagte: «Hallo Papi.» Erstaunt sah der Mann den Jungen an.
«Das klingt direkt echt», meinte er anerkennend. Markus grinste.
«Da kommt wieder ein Pulk von Kindern, sind auch welche aus deiner Klasse dabei?»
«Ja», sagte Markus schnell, «vier.»
«Erzähl mir etwas Aufregendes, wir müssen uns mehr unterhalten, sonst riechen deine Kameraden den Braten.»
Markus stellte sich dicht vor den Mann und erzählte, durch Hände und Arme untermalt, von dem Zusammenbruch seiner größten Burg und schloß: «... ich habe alles wieder aufgebaut. Das war vielleicht eine schwere Arbeit.»
«Guten Morgen», sagten einige Stimmen dazwischen, und der Mann winkte lässig zurück. Im Vorbeigehen schauten die Klassenkameraden zu den beiden hin, sahen, wie Markus’ Vater auf die Uhr schaute, der Junge einige Schritte auf das Hauptgebäude zuging, plötzlich erschrocken stehenblieb und dann wieder zu seinem Vater zurückging.
Der Mann hatte sich zum Schluß der Verwandlung auch etwas einfallen lassen. «Keinen Abschiedskuß heute?» fragte der Mann lauernd. Markus stand wie aus Stein gehauen, aber nur wenige Sekunden. Dann meisterte er auch diese Situation. Er legte die Arme um den Hals des Mannes, der sich vorgebeugt hatte, verteilte aber keinen Kuß, wie seine Klassenkameraden meinten, sondern flüsterte leise ins rechte Ohr: «Vielen Dank!» Der Mann flüsterte zurück: «Gern geschehen, du Schlingel.»
Dann lief Markus winkend davon, und auch der Leihvater ging wieder zum Busbahnhof, wo er in den abfahrbereiten Bus nach Hamburg stieg.
An diese Geschichte mußte Günter Stegmann denken, als er mit Mühe die vielen Weihnachtspakete unter den Tannenbaum schob. Auch die zweite Begegnung mit Markus fiel ihm ein. Genau vierzehn Tage später, an einem diesigen Novembermittag, ging Günter zum Marktplatz hinunter. Vor sich sah er Markus gehen, und er beschleunigte seine Schritte. Als er mit Markus auf gleicher Höhe war, sprach er ihn an. Der Junge erschrak und stotterte ein leises «Hallo». Die Begegnung war ihm peinlich, weil ihm Muttis Vorwürfe und Schelte einfiel, als er ihr die Geschichte erzählt hatte. Günter aber plauderte munter mit dem Jungen, und allmählich taute Markus auf. Nun erfuhr der Mann auch, daß Markus’ Mutter mit einem gebrochenen Arm im Krankenhaus lag, daß seine Oma heute abend noch aus Trappenkamp zu ihm kommen würde und daß Mucki drei Tage verschwunden war, nun aber wieder gesund und munter in ihrem Korb lag. Günter lud den Jungen zum Essen ein, und bei Zigeunerschnitzel und Pommes ließ es sich herrlich plaudern.
Nach dieser Begegnung besuchte Günter Markus’ Mutter im Krankenhaus. Diesem Treffen folgten weitere, und heute wollten sie gemeinsam den «Heiligen Abend» verbringen.
Es klopfte an der Tür.
«Was ist?» rief Günter.
«Ist Mutti bei dir?» rief Markus fragend von der Tür her.
«Nein», sagte Günter, «vielleicht ist sie im Bad. So groß ist die Wohnung doch nicht, daß sie uns hier verlorengeht.» Markus lachte.
«Nicht durchs Schlüsselloch schauen», sagte Günter eindringlich, als es vor der Tür verdächtig still wurde. «Natürlich nicht, Vati, ist doch Ehrensache!»
Zehn Minuten später begann das große Auspacken der reichlichen Geschenke, aber das wertvollste Geschenk hatte er schon am Vortag bekommen, als er seiner Mutter und Günter die Verlobungsringe überstreifen durfte.
Der Abend verlief so ruhig und harmonisch, daß Markus erst gegen ein Uhr ins Bett fand. Als Claudia und Günter noch ins Zimmer kamen, um ihm eine gute Nacht zu wünschen, öffnete Markus nur das rechte Auge, sah die beiden Erwachsenen, war glücklich und sagte müde: «Ihr seid ein hübsches Paar!»
Sie schauten sich lächelnd an, und Claudia meinte sanft: «Wir haben ja auch einen hübschen Jungen.»
Doch Markus hörte es schon nicht mehr. Er war schnell in eine Traumwelt versunken, die voll war mit glitzernden Tannenbäumen, mit Lichtern und einem
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