Weihnachtsgeschichten am Kamin 02
Glitzersachen am zimmerhohen Tannenbaum zu bestaunen waren. Das sollte Menschenwerk sein? Niemals!
An diesem Heilignachmittag, es war schon die erste Dämmerung angebrochen, übergab mir die Großmutter den Auftrag, ein Gabenpaket zu ihrer Masseuse zu bringen. Sie wohnte ein paar Minuten zum Stadtrand hin, in einer engen Straße mit niedrigen schmalen Häusern. Unser Lehrling Gerd sollte mich begleiten. Er war ein hübscher junger Mann, in den ich auf meine kindliche Art verliebt war. So in feiner Kleidung kam er mir noch schöner vor.
Unter unseren Füßen knirschte der «Geburtstagsschnee», der nun «Weihnachtsschnee» war, und er glitzerte in dem spärlichen Licht der Gaslaternen, wie er nur zu Weihnachten glitzert. Wir gingen Hand in Hand durch die Altstadtstraße, und kein Mensch begegnete uns. Wir sprachen auch ganz wenig. Aber ich fühle noch heute: wenn Gerd sprach, klang es ganz melodisch und sanft.
Da hörte ich in der Schneestille dieses Heiligabend, wie auf der anderen Straßenseite eine Haustür geöffnet wurde und erst ganz langsam, kaum sichtbar, sich etwas Dunkles und danach eine rote Gestalt aus der Tür bewegte, auf die Straße trat und nach ein paar Schritten im Nebenhaus verschwand. Meine Augen mußten sich sehr anstrengen, und dann glaubte ich, ihnen nicht trauen zu können. So schnell war der Augenblick vorbei. Ich fragte Gerd: «Hast du ihn auch gesehen?»
«Ja, das war der Weihnachtsmann», sagte er ganz selbstverständlich. Das war die Gewißheit, heute war Heiligabend.
Und wenn alle Welt es besser wissen wollte, so wußten sie eben nichts. Es gab ihn also doch. In mir war große Freude.
Wir gingen schweigend weiter Hand in Hand in der glitzernden Winterkälte. Das ärmliche kleine Haus der alten Masseuse mit dem mir fremden Geruch erschien mir hell.
Zu Hause erzählte ich nur so nebenbei unser Erlebnis, ich wollte es in mir bewahren, und nichts hätte mich beeindruckt, was dazu gesagt worden wäre. Von nun an vermied ich auch in Kinderkreisen, von diesem Thema zu hören und zu reden.
Ein oder zwei Jahre später kam die Nachricht, daß unser Lehrling im Krieg gefallen sei. Die Familie war sehr bedrückt. Es war der erste Soldatentod in unserer Umgebung. Zum Tod hatte ich sicher noch keine rechte Beziehung, aber ich trauerte. Doch in mir erstand bei dieser traurigen Nachricht wieder der Weg mit Gerd am Heiligabend. Mit dieser Gewißheit «Es gibt ihn doch» entstand in mir ein Denkmal für diesen jungen Mann, dessen Nachnamen ich nie gewußt habe.
Das Weihnachtserlebnis ist in mir erwachsen geworden, und ich habe es meinen Kindern weitergegeben, als sie alt genug dafür waren. Laßt ihn uns bewahren, den Weihnachtsmann. Lassen wir uns darin nicht stören von den vielen, die mit ihm Geschäfte machen wollen. Lassen wir ihn in uns leben als den Knecht der Liebe unseres Kindes in der Krippe.
Peter-Heinz Reicher
Die Leihgabe
«Können Sie für fünf Minuten mein Vater sein?»
«Wie bitte?»
«Ob Sie bitte für fünf Minuten mein Vater sein können?» fragte der zehnjährige Junge den Mann, der als letzter den Bus am Segeberger ZOB verließ.
«Was ist denn los, will einer was von dir? Hast du eine Wette abgeschlossen?» fragte der Mann hastig und verwirrt.
«Nein», sagte der Junge einfach.
«Was soll denn das?»
«Ich habe meiner Klasse versprochen, daß mein Vater mich heute zur Schule bringt.»
«Aber warum versprichst du denn so etwas», erwiderte der Mann ärgerlich, «und wo ist denn überhaupt dein Vater?»
Der Junge senkte den Kopf: «Ich hab keinen.»
In diesem Moment verspürte der Mann den brennenden Wunsch, dem Jungen zu helfen. «Komm», sagte er plötzlich, «führt dieser Weg zur Schule?»
Der Junge nickte etwas beklommen.
«Du mußt mir in Kurzform einiges von dir erzählen, was du gerne spielst, am liebsten ißt und so weiter.»
Der Junge begriff nun erst, was er angestellt hatte, aber es gab kein Zurück mehr. Deshalb erzählte er munter:
«Ich heiße Markus, bin zehn Jahre alt, lebe mit Mutti allein, habe keine Geschwister, aber eine Katze, die Mucki heißt — warum, weiß ich nicht mehr genau. Ich fahre gern Rad, spiele Fußball und baue große Türme aus Legosteinen. Ich esse gerne Schnitzel mit Pommes und Schokoladenpudding, hinterher natürlich. Ich höre gerne Musik und sehe am liebsten Krimis im Fernsehen...»
«Wohl einige zuviel», betonte der Mann lächelnd, «aber weiter.»
Markus überlegte kurz, dann wurde er plötzlich ganz lebhaft:
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