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Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Richter , Stubel,Wolf-Dieter
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auch keine rechte Vorfreude auf Weihnachten aufkommen. In der Kirche war der Gottesdienst stärker besucht als sonst. Die Menschen suchten Trost.
    Mein Vater humpelte (er hatte seit dem Polenfeldzug ein steifes Bein) täglich besorgter über den Hof, schaute und horchte nach Osten, woher bei Ostwind die Front drohend zu uns herübergrollte.
    Am 22. Dezember, beim Abendbrot, eröffnete Vater uns, daß wir den Hof verlassen müßten. Wir sollten erst mal die Memel westwärts überqueren, um dort Weiteres abzuwarten. Mutter weinte, meine Schwester und ich waren ratlos. Schon in zwei Tagen sollten wir trecken, wie Vater das nannte. Zu seinen Worten fiel mir nichts Besseres ein, als zu fragen: «Was ist denn mit Weihnachten? Wir haben doch schon den Baum geschlagen?!» Mutter nahm uns in ihre Arme und meinte, noch schluchzend, tröstlich: «Weihnachten ist überall, Kinderchen.»
    Ich will jetzt nicht erzählen, wie wir den nächsten Tag durchlebten. Das ist eine Geschichte — eine traurige — für sich.
    Am Heiligabend fuhren wir mit unserem schwer beladenen Wagen vom Hof. Vater hatte Max und Liese vorgespannt, und Lotte war hinten am Wagen festgebunden. Deutlicher als sonst wummerte es im Osten, und am Horizont blitzte es wie Wetterleuchten. «Uns zum Abschied», dachte ich. Es hatte in den letzten Tagen geschneit, doch Wege und Straßen waren durch Militärfahrzeuge eingefahren. Am Dorfausgang sammelten sich die Einwohner zu einem Treck, und dann ging es westwärts auf Tilsit zu, zur Memelbrücke. Nur langsam kamen wir voran und öfter gab es einen Halt. Entweder stießen andere Trecks zu uns oder die Vorfahrt der Militärfahrzeuge war zu beachten. Ohne größere Rast wurde den ganzen Tag gefahren.
    Am Abend gelangten wir in ein Dorf (an den Namen erinnere ich mich nicht). Hier sollte übernachtet werden. Groß war das Gedränge, aber schließlich fuhren wir auf einen Hof und wurden in einen Stall eingewiesen. Vater fütterte und tränkte die Pferde, während Mutter in einer Stallecke für uns ein Lager bereitete. Dabei halfen wir Kinder ihr, trugen Decken und Pelze hinein und breiteten sie auf Stroh aus. Endlich war auch Vater fertig. Die Pferde malmten ihren Hafer. Um uns herum hatte Vater Stallaternen aufgestellt. Nur unsere Ecke wurde von ihrem gedämpften Licht erhellt, der übrige Raum verblieb in Dämmerung. Vater bat mich mitzukommen. Wir gingen zum Wagen. Dort gab er mir einen länglichen Gegenstand, verpackt in einer Plane, und er legte sich eine Holzkiste auf die Schulter. Erst im Stall, beim Abnehmen der Plane, merkte ich, daß Vater unseren Weihnachtsbaum mitgenommen hatte. Und noch mehr! Aus der Kiste holte er unseren Baumschmuck und unsere Bibel mit den Silberbeschlägen. Dazu bemerkte er: «Weihnachten ist überall, wie Mutter sagt. Also laßt uns trotz allem den Heiligabend feiern.» Der Baum wurde in einen Strohballen gesteckt. Rasch hatten wir ihn geschmückt und auch einige Kerzen angebracht. Auf Strohballen saßen wir im Halbkreis um den Baum herum. Leise klirrten die Ketten der Pferde, die uns neugierig ihre Köpfe zuwandten. Das Kerzenlicht flackerte an den Stallwänden, Schattenbilder werfend. Es roch nach Heu und Pferden, Stallduft und Stallwärme umhüllten uns. Vater nahm die Bibel zur Hand, setzte seine Brille auf und las mit seiner Feiertagsstimme, bedächtig Zeile für Zeile mit dem Zeigefinger suchend, die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas Evangelium. So, wie er es auch an früheren Heiligabenden bei uns zu Hause machte. Mutter hörte, die Hände gefaltet, andächtig zu, wobei sie mit den Lippen lautlos die Worte mitformte. Ab und zu stieß jemand die Stalltür auf, und ich konnte dann draußen wirbelnde Schneeflocken erkennen. Einige wurden hereingeweht. Der Luftzug ließ die Kerzen aufflackern, die Schattenbilder unruhig zucken. Andere Flüchtlinge traten behutsam in unseren Kreis und hörten Vater zu. Eigenartig berührte mich die Stimmung im Stall. Vater las von der Krippe und den Hirten. Mir erschienen die fremden Leute wie Hirten, und mir ging durch den Sinn: «So könnte es auch vor 1944 Jahren gewesen sein.» Alle schauten andächtig auf den leuchtenden Baum. «Wie auf den Stern von Bethlehem», dachte ich weiter. Über Mensch und Tier lag eine ganz besondere Feierlichkeit, und ich glaubte zu spüren, daß Engel uns umgaben. Alles wirkte so unendlich friedlich.
    Vater hatte die Geschichte beendet, legte die Bibel noch aufgeschlagen beiseite und forderte alle auf, nun gemeinsam

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