Weihnachtsgeschichten am Kamin 02
Hand die langen Flure entlang und sangen Weihnachtslieder. Wenn wir vor den geöffneten Türen der Krankensäle haltmachten und in die auf uns gerichteten Augen sahen, überkam uns ein wunderschönes Gefühl. Dann trat jemand aus unseren Reihen hervor und verkündete die Weihnachtsgeschichte... mir zuliebe. Da wurde mir klar, daß es eigentlich gar nicht so schwer ist, Freude zu schenken, und Weihnachten ist ja nun einmal das Fest der Liebe. Aber der Heilige Abend war ja noch nicht vorbei. Meine Freundin nahm mich an die Hand, und wir liefen hinunter auf die Straße in Richtung Markt. Es war eine sternenklare Nacht, bizarr und ganz weiß leuchtete der frisch gefallene Schnee ringsherum. Wir hatten es eilig. Wir lachten und schwatzten, und unser Atem wehte wie ein durchsichtiger Schleier vor unseren Gesichtern.
Wir kamen am Marktplatz an. Dicht gedrängt standen hier schon Menschen, Erwartung lag in der Luft. Meine Freundin flüsterte, sie wüßte einen guten Platz, von dem man den ganzen Marktplatz überschauen könnte... bis hinunter zum Fluß Clyde. Wir drängelten und schoben uns durch und standen endlich da, wohin mich meine Freundin lotsen wollte. Der Anblick war erhebend: über die Köpfe der großen Menschenmenge hinweg glitt unser Blick hinunter zum Fluß. Da lagen Ozean-Riesen vor Anker, hell erleuchtet, über die Toppen geflaggt. Trotz der vielen Leute auf dem Marktplatz war es still... eine himmlische Ruhe lag über dem Platz und über uns der sternenklare Himmel. Dann begann ein Chor zu singen, und wir stimmten alle mit ein. Eine Dreiviertelstunde lang sangen wir gemeinsam Weihnachtslieder, Carol-singing nennt man es. In den Pausen zwischen den Liedern legte sich wiederum Stille über den Platz, wurde unterbrochen durch das Anstimmen der Lieder durch den Chor, und wir fielen mit einer solchen Begeisterung in die Weisen ein, daß es wie ein Aufbrausen war. Mir war so, als wenn die Stimmen zum Himmel aufstiegen und weit ins Land hineinwehten. Ich fühlte mich eins mit all den Leuten ringsherum, wie «in Familie», und es war mir so, als wenn ich gerade in diesem Moment einen heißen Draht nach oben hatte... zum lieben Gott.
Das Carol-singing war vorbei. Wie auf leisen Sohlen bewegten sich die Leute davon; die einen heimwärts, andere drängte es, in die Messe zu gehen, denn auf der anderen Seite des Marktplatzes sah ich das weit geöffnete Portal. Der Kirchenraum wirkte auf Distanz halb dunkel. Meine Freundin und ich sahen uns an. Wir dachten beide das gleiche, und unsere Schritte bewegten sich automatisch auf dieses geöffnete Tor zu. Ein Gottesdienst am Heiligabend, wie zu Hause, dachte ich. Einer wie alle anderen? Wir standen ja noch unter dem Eindruck des Carol-singing, als uns die leidenschaftlich vorgetragene Predigt aus der andächtigen Stimmung riß und uns zwang, genau hinzuhören. Eine Ermahnung — wie mit Lettern geschrieben — pflanzte sich in meine Gedanken, und ich vergaß sie nie. Der Pastor donnerte von der Kanzel herunter: Versucht zu handeln nach dem Motto:
Der Zweitbeste ist nicht gut genug!
War es die Weihnachtsstimmung, war es mein begeisterungsfähiges Alter, daß ich mir schwor, nach diesem Leitwort zu leben?
Renate Schwarz
Der Streuselkuchen
Die Kindheit liegt schon weit zurück, doch ich erinnere mich genau an jedes Weihnachtsfest zu Hause im Kreis der Familie. Wir waren drei Geschwister; eine drei Jahre ältere Schwester, dann kam ich und nach mir ein vier Jahre jüngerer Bruder. Mutter hatte durch uns viel Arbeit, aber sie tat alles gern, nie klagte sie. Gerade zu Weihnachten fiel mir das besonders auf. Sie nähte, backte Bleche voll herrlicher Plätzchen, auch leckeren Kuchen. Sie fühlte sich wohl in ihrer kleinen Welt, trotz allem. Vater ging seiner Arbeit nach; seine Aufgabe war zu Weihnachten nur, das Tannenbäumchen zu besorgen und auszuschmücken. Er nahm es immer sehr genau damit. Die Tanne mußte ganz gerade gewachsen, die Zweige mußten einer wie der andere sein. So einen Baum zu finden, war nicht leicht, doch es klappte immer. Die Wohnstube war für uns Kinder Heiligabend tabu, erst nach dem Kirchgang durfte sie betreten werden.
Wir wohnten nicht weit von der Kirche entfernt. Die Glocken waren somit nicht zu überhören. Vater, der immer zu Hause blieb, wußte also genau, wann wir eintrafen. Er brauchte nur aus dem Fenster zu schauen und konnte die ganze Straße übersehen. So wußte er, wenn wir im Anmarsch waren. Das Tannenbäumchen bekam seinen letzten
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