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Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Weihnachtsgeschichten am Kamin 02

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Richter , Stubel,Wolf-Dieter
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Ich erinnere mich, daß er Mr. Nader hieß und ich mich mit ihm sogar auf englisch unterhielt. Schulenglisch natürlich, denn ich war gerade dreizehn Jahre alt geworden. Mr. Nader lobte meine Sprachkünste, und ich fühlte mich sehr geehrt. In Berlin-Zoo wünschten wir uns frohe Weihnachtstage und er mir eine angenehme Weiterreise. Ich zog schon langsam meinen Mantel an, stellte meinen Koffer bereit und wartete, daß die Lokomotive in Berlin-Friedrichstraße stoppte. Den großen Unterschied der beiden Berliner Stadtteile sah ich diesmal noch nicht, war nur in heller Aufregung. Meine Oma wollte mich hier in Empfang nehmen; ich hatte sie zuletzt gesehen, als ich fünf Jahre alt war! Jedoch kamen mir keinerlei Bedenken, sie nicht auf Anhieb wiederzuerkennen. Ihr markantes Zeichen war eine rote Strickjacke, die sie trug. Ich dagegen hatte nur mich selbst. Die Kontrolle der Volkspolizei beunruhigte mich nicht, im Gegenteil, ich fand es recht nett, wieviel Mühe man sich meinetwegen machte. Zudem war ich als Backfisch in einem Alter, in dem man gerne so manchen verstohlenen Blick in fremde Männeraugen wagt. Augenkontakte beförderten mich also mit der Menschenschlange durch eine große braune Tür, die, bevor sie mich freigab, noch mit dicken blauen Decken verhängt war. Plötzlich stand ich draußen in der kalten, dämmerigen Dezemberluft und sah das Gewirr von unheimlich vielen Leuten. Alle warteten geduldig auf Verwandte oder Bekannte aus dem Westen.
    «Oma», rief ich laut, ließ alles stehen und liegen und rannte auf die rundliche kleine Frau mit den treuen braunen Augen und der roten Strickjacke zu. Wir hielten uns ganz lange in den Armen, und Oma küßte mich mit ihren nassen, lieben Küssen. Ich hielt ganz still. Zu lange hatten wir uns auf diesen Augenblick gefreut, sie bestimmt noch inniger als ich. Wir kamen in die Wirklichkeit zurück, und Oma fragte mich ganz erstaunt, ob ich denn keinerlei Gepäck habe. «Doch», antwortete ich ganz brav, «den Koffer habe ich gleich bei der Ausgangstür abgestellt.»
    «Constanze, das darf man hier nicht tun, in so einer Großstadt klauen sie wie die Raben.» Den Satz werde ich nie vergessen! Panik! — Inmitten des ganzen Menschengewühls stand mein Koffer, Gott sei Dank, an seinem Platz. Das war großes Glück! An einem so herrlichen Tag kann man ja gar kein Pech haben.
    Wir hielten uns fortwährend an den Händen fest, und Oma wunderte sich und staunte nicht schlecht, wie ich gewachsen war. Opa hatte in W. Dienst, wollte den Christbaum schmücken und konnte unsere Ankunft kaum abwarten.
    Die Reise war nämlich in Berlin noch nicht zu Ende, ungefähr die Hälfte hatte ich geschafft. Meine Großeltern lebten in einem kleinen Dorf in der Nähe von Stralsund.
    Kuchen und Cola-Gold halfen, mich zu stärken, und weiter ging die Fahrt. Jetzt nicht mehr allein. Ich fühlte mich sicher an Omas Seite. Sie kannte die Strecke ganz genau. In den fünfziger Jahren war sie einmal im Monat nach West-Berlin gefahren, um für mich Hautcreme oder Bananen zu besorgen. Heute brachte sie auch etwas sehr Wertvolles mit nach Hause. Die Zeit verging nun wie im Flug, wir hatten Gesprächsstoff für Wochen.
    Die Freude eines Menschen über meine bloße Anwesenheit habe ich in meinem weiteren Leben in dieser Art und Weise nie wieder erlebt. Für meine Oma war ich etwas ganz Besonderes. Wer kann das schon von sich behaupten?!
    Beim Aufenthalt auf dem letzten Umsteigebahnhof war es schon später Abend geworden, die Heilige Nacht. Auf dem Bahnsteig wollten wir nicht auf den Zug warten, deshalb nahmen wir im Bahnhofslokal Platz. Nur wenige Gäste saßen an den Tischen. Ich hatte schon wieder Hunger und bekam auch Würstchen mit Kartoffelsalat spendiert. Wir beide waren von der ellenlangen Fahrerei ziemlich abgespannt, und ich glaube, Oma war schon etwas heiser vom Erzählen und Fragen, da brachte der Kellner einen Likör an unseren Tisch. Wir beteuerten, keinen solchen bestellt zu haben, doch der Kellner klärte uns auf: «Der Pfefferminzlikör ist für das kleine Fräulein von dem jungen Matrosen am Tisch gegenüber.» Ich war ganz verlegen. Oma meinte, den Likör müsse ich wohl annehmen. Irgendwie freute ich mich, daß ich an diesem Abend von einem Unbekannten aus dem anderen Teil Deutschlands so lieb begrüßt wurde. Ich prostete dem Matrosen zu und trank.
    An die Sache mit dem Pfefferminzlikör habe ich noch oft gedacht. Letzte Weihnacht, als ich mit meiner Familie in einem französischen Lokal

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