Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
in dem dieses wunderbare Solo erklingt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Wir gehen weiter, hören, singen, gehen schneller. Nun bleibe ich stehen, um den Klang besser in mich aufnehmen zu können. So schön habe ich dieses Lied noch nie gehört. Mitten in der Stadt, im weihnachtlichen Verkehrsgewühl ertönt wie aus unzähligen Lautsprechern dieses herrliche Lied. Zum Glück habe ich ein Taschentuch in meiner Manteltasche. Ein bißchen verstohlen trockne ich mir die Augen.
Was all die klassischen Weihnachtslieder: «O du fröhliche...», «Süßer die Glocken nie klingen», «Stille Nacht, heilige Nacht» und die vielen anderen, die uns schon seit vier Wochen in Kaufhäusern und Einkaufszentren aufdringlich berieseln, nicht vermochten — dieses Lied aber, ein Stück aus einem Musical, läßt spontan Weihnachtsfreude aufkommen.
Beinahe hätte ich die Zeit vergessen. Ich muß mich nun beeilen, schreite bewegt über die Brücke am Jungfernstieg — und auch hier die gleiche Stimmung: Die ganze Stadt scheint erfüllt von dieser wundervollen Melodie. Es ist schon zwei Minuten über der Zeit; doch ich möchte diese eindrucksvolle Botschaft unbedingt zu Ende hören.
So bleibe ich an der Brüstung stehen und stelle mir vor, wie es wäre, wenn man im ganzen Land, in der ganzen Welt Lautsprecher anbringen würde... und wenn alle Menschen dieses Lied hören und mitsingen würden... und wenn Friede wäre in der Welt...
Morgen ist Weihnachten.
Als die Kälte den letzten Hauch des Solos erstickt hat, sind es nur noch wenige Schritte bis zum Haus an den Arkaden, in dem die Zweigstelle der Bundesversicherungsanstalt untergebracht ist. Ein reflektierender Gegenstand unmittelbar vor dem Gebäude zieht meinen Blick unwillkürlich auf sich, während ich auf den Eingang zusteuere. Ich sehe gerade noch, wie ein junger Mann in ausgefransten Jeans und kurzem Parker behutsam seine Trompete in einen Kasten legt...
Ein Mädchen reicht ihm seine Handschuhe.
Sabine Leisner
Unter freiem Himmel
Was können menschliche Begegnungen in ihrer Vielfalt alles bewirken, besonders in der Advents- und Weihnachtszeit.
Sie kann Hoffnungsträger sein oder qualvolles Leiden auslösen, sie kann Freude und jenes geheimnisvolle Licht überbringen oder Einsamkeit im Einklang mit der Finsternis spüren lassen. Eine Begegnung kann zu sprühenden Gesprächen hinreißen aber auch ebenso still und nachdenklich stimmen.
Es gibt Menschen, die man sucht und solche, die zu einem kommen, ohne daß man sie jemals darum gebeten hat, und die eine große Wirkung hinterlassen. Letzteres widerfuhr mir zwei Tage vor dem Heiligen Abend.
Irgendwo zwischen dem Bodensee und Stuttgart nahm ich durch das Zugfenster auf einem kleinen Bahnhof einen älteren Mann wahr, der dort mit zwei Koffern und mehreren Tüten stand. Ein Nichtseßhafter oder Tippelbruder, wie er im Volksmund heißt, stellte ich in meinen Gedanken fest, welches Ziel mag er haben — gerade in dieser Zeit, wo die Seele besonders empfindsam ist und nach Wärme und Geborgenheit sucht? Dann war er meinem Blickfeld entschwunden. Nach fünf Minuten öffnete er ausgerechnet meine Abteiltür, wo doch der ganze Zug fast leer war. Er fragte höflich, ob er eintreten dürfe, was ich ihm natürlich nicht untersagte, in dieser Zeit ist man eben empfindsamer für seine Mitmenschen.
Es stiegen noch zwei weitere Personen hinzu, eine gebürtige, elegante Wienerin und eine ältere Schwarzwälderin. Wir vier gaben wohl ein sehr unterschiedliches Bild ab, und so verschieden mußten auch unsere Gedanken sein. Ich bemerkte, wie die beiden Frauen leicht die Nase rümpften und die wundersame männliche Gestalt betrachteten.
Gerade aber diese Gestalt war es, die jene stillen Überlegungen mit einer Frage an die Mitreisenden unterbrach: «Na, meine Damen, wohin soll denn die Reise gehen?» — «Schwäbisch Hall und Stuttgart, zu den Kindern», waren die prompten Antworten, während ich mich in schweigende Zurückgezogenheit hüllte. Es gefiel mir nicht, ausgefragt zu werden, außerdem fühlte ich mich erschöpft vom Beruf und sehnte mich nach Weihnachtsruhe.
Unterdessen ging das Gespräch zwischen den drei anderen Menschen weiter. Nun war er, der immer unterwegs zu sein schien, an der Reihe zu antworten, wohin ihn die Reise führte. Gerade jetzt zu den Weihnachtstagen? In seiner gepflegten, fast lyrischen Ausdrucksweise erzählte er uns, daß er seit mehr als siebzehn Jahren das Weihnachtsfest «draußen» verbringen
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