Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
Richtig schön war das alles. Ein paar Tage noch, dann sollte es soweit sein!
All diese Vorfreude wurde urplötzlich getrübt und das kam so:
Die Familie saß plaudernd beisammen, man erinnerte sich an vergangene Weihnachten, man stellte sich das bevorstehende Fest vor.
«Unser Krämerladen, der wird doch auch in diesem Jahr wieder für uns da sein?»
Für uns Geschwister war das die «selbstverständlichste Sache der Welt» — ein Weihnachten ohne Krämerladen? Niemals!
Die Eltern sahen sich an und antworteten etwa so: «Nein, wir haben beschlossen, ihn nicht wieder herzurichten. Erstens seid ihr inzwischen schon zu groß dafür geworden, zweitens streitet ihr euch doch immer wieder, wer nun mehr oder weniger aus dem Krämerladen genascht hat.»
Wir waren entsetzt und erschrocken zugleich. Sollte man am Heiligen Abend nicht zum Kaufmann gehen können? Wir stellten uns die mit allerlei Köstlichkeiten gefüllten Schubläden vor, die kleinen Tüten, die Körbchen voller Marzipankartoffeln, die kleinen Brote, die an Bändern hängenden Zuckerkringel, die Waage mit den kleinen Gewichten. Wir erinnerten uns an das Blechtelefon, an die Glasbehälter voller bunter Liebesperlen, der Notizblock mit Bleistift fehlte nicht — und, und, und...
All unser Protest und die kullernden Tränen halfen nichts: Der Krämerladen sollte auf dem Boden bleiben, weil zum einen das Füllen auch zu teuer sei und andere Dinge zwischenzeitlich nötiger geworden sind.
Ich konnte das damals überhaupt nicht begreifen, und ich war nicht nur traurig darüber, sondern wütend. Dauernd überlegte ich, was man anstellen könnte, um doch noch zu unserem weihnachtlichen Krämerladen zu kommen.
Zu der Zeit befand ich mich in der Lehre, das erste halbe Jahr lag noch nicht ganz hinter mir und ich hatte die ungeheuerliche Idee, meine damalige Chefin um «Vorschuß» zu bitten, wozu ich dann letztlich doch nicht den nötigen Mut hatte. Also fand ich mich beinahe schon damit ab, daß es nun tatsächlich keinen Krämerladen geben würde.
Am letzten Arbeitstag vor dem Fest geschah etwas Überraschendes: Unsere Chefin wünschte jedem im Büro frohe Festtage und übergab allen einen kleinen grünen Briefumschlag: «Für einen kleinen Wunsch» meinte sie. Mein Herz zersprang fast vor Aufregung: Ich bekam eine «Weihnachtsgratifikation»; damals beileibe keine Selbstverständlichkeit — damals war das wirklich und wahrhaftig als ein Geschenk anzusehen.
In meinem Briefumschlag befanden sich 25 oder 30 Mark; genau weiß ich es nicht mehr. Auf alle Fälle wußte ich sofort, was ich damit anfangen würde.
Ich rannte die Treppe hinunter und raus aus dem Büro, flitzte durch die Menschenmengen, rutschte noch fürchterlich auf einer Straßenbahnschiene aus und erreichte schnaufend das Kaffee- und Süßwarengeschäft «Tangermann» in Hamburg Eppendorf. Es war kurz vor Toresschluß. Feierabend.
Eine ganz liebe Verkäuferin nahm sich trotzdem meiner an, ich erzählte ihr schnell die Geschichte vom Krämerladen, legte das Geld auf den Tresen und sagte, daß ich dafür alles Nötige für eben diesen Krämerladen haben möchte.
Unglaublich, was die Verkäuferin alles zusammentrug. Ich merkte ganz deutlich, daß sie sich mit mir freute.
Augenzwinkernd verschwand die eine oder andere Süßigkeit zusätzlich in den Tüten: «Das sind Sonderangebote, nach dem Fest kauft die sowieso keiner mehr.»
Mit all meinen Schätzen fuhr ich anschließend mit der U-Bahn nach Hause: Was die Eltern wohl für Augen machen werden? — Ob die Geschwister sich wohl freuen? Überglücklich übergab ich alles meiner Mutter: «Siehste, nun werden wir doch nicht ohne unseren Krämerladen sein!!!» —
Mutter staunte und versprach, den anderen nichts zu verraten.
Nun konnte es Heiligabend werden — nun konnte der Weihnachtsmann endlich kommen. Und dann war es soweit.
Nachdem ein Glöckchen läutete, öffnete unser Vati die große weiße Schiebetür zum Weihnachtszimmer: Prächtig stand dort der vom Boden zur Decke reichende glitzernd bunte Tannenbaum, darunter viele, viele Päckchen und davor: Unser schöner roter Krämerladen bis zum Rand gefüllt: Unsere Mutter hatte noch einiges hinzugefügt — das sah ich ganz deutlich. Die ganze Familie strahlte, der Jubel nahm schier kein Ende. Ich war unglaublich glücklich, und ich erinnere mich, daß die Eltern mich sehr lieb an sich zogen und ganz herzlich drückten. Ein bißchen habe ich dann vor lauter Freude geweint.
Olaf
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