Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
Instrumenten. Flöten könnten dabei sein. Wo wir doch gerade, jetzt in der 3., mit dem Flötenspiel begonnen haben. Schon mal im Ordner nach Advents- und Weihnachtsliedern suchen, nach Gedichten von Weihnacht und Winter. Fertige Matrizen. Ob sie noch was hergeben? Ich müßte in Zukunft vermerken, wie oft schon abgezogen. Wir werden sehen. Zur Not ist da ja noch der neue Normalpapierkopierer.
Jedes Jahr die gleichen Überlegungen. Jedes Jahr eine Zeit zumeist freudigen Übens. Einladungen an die Eltern. Endlich ist es so weit. Der Nachmittag oder auch Abend der Weihnachtsfeier. Im Klassenzimmer. Gebastelter Weihnachtsschmuck an Fenstern und Wänden. Wache Kinderaugen, gerührte Eltern, weinende Kleinkinder dabei, liebe Worte, dankbares Händeschütteln. Eigentlich immer alles wie gehabt. Der Anlaß, das Thema, die Stimmung: Im Laufe von vielen Jahren Schuldienst fließt in der Erinnerung alles ineinander, wird zu einer einzigen großen Feier.
Und doch! Wenn ich zurückblicke, war da ein Erlebnis, das im eigentlichen Sinne des Wortes alles andere überstrahlt. Noch heute unvergeßlich. «Überleuchtet» muß es besser heißen. Denn es hatte mit dem «Leuchten» zu tun. — Auch 3. Klasse. Vor zehn Jahren? Ungefähr.-
«Wißt Ihr noch?» Ein Weihnachtsgedicht von Hermann Claudius. Sechs Strophen. Also, sechs Kinder bestimmen. Wer nimmt die 1., 2., 3.... Strophe? Namen an den Rand der Strophen schreiben. Nadia, 1. Strophe, Sonja, 2. Strophe,... Ja und hier kann ich eigentlich schon aufhören. Denn hier ereignete sich das für mich noch heute Unfaßbare. — Da steht Sonja. Vor der Klasse. Ich hatte es vorgemacht. Beide Hände leicht vor dem Körper. Dann eine ruhige, schwebende Bewegung jeder Hand zur Seite: «Stille war es um die Herde.» Ruhiger, warmer Klang der Stimme. «Und auf einmal war ein Leuchten»... Mir stockt der Atem. Ich übertreibe nicht. Ein Schauder durchrieselt mich. Gänsehaut, obwohl ich an der Heizung lehne... «und ein Singen auf der Erde»... Die Hände, die beim «Leuchten» in einer unglaublich leichten, innigen Bewegung einen Bogen vor dem Körper geformt hatten, gehen jetzt sanft herunter zur Seite. «...daß das Kind geboren sei.»
Ja, so muß es gewesen sein. Ein Schulmädchen nur! Und ich sehe eine Himmelsleiter, gewaltiges Licht, den Engel der Verkündigung, die Hirten, geduckt im blendenden Schein. Den Stern über dem Stall, das Kind in der Krippe. Sooo leuchtend !
Die folgenden Strophen, ich höre sie wie von fern. Klanglos, ohne Stocken aufgesagt. Brav!
Was weiß sie, die auch Sonny genannt wird? Weiß sie mehr als die anderen Kinder? Als ich? Fühlt sie anders? Oder ist es nur der Klang ihrer Stimme?
«...ein Leuchten »! So unnachahmlich! Aber nicht unwiederholbar. Denn: Wir üben noch mehrfach. Und — es ereignet sich jedesmal. Das Leuchten... Im Klassenraum. Die Mitschüler spüren etwas. Tatsächlich. Keine Einbildung von mir. Münder öffnen sich, und die Köpfe beschreiben eine kleine, aber sichtbare Bewegung von unten nach oben und wieder nach unten.
Ich bin sicher. Dieses Leuchten! Es wird auch den Abend mit den Eltern erhellen.
Nur spärliches Licht von einigen Kerzen. Ich stehe seitlich von den Kindern, ihnen zugewandt.
... «und auf einmal war ein Leuchten»... Woher nimmt das Kind diese Kraft in der klingenden Stimme? Diese Innigkeit in der natürlichen Bewegung? Diese Beständigkeit in all den Wochen des Übens? Diese Selbstverständlichkeit, die immer wieder neu strahlt? Nun auch an diesem Abend.
Ich helfe den Kindern beim Ausziehen der Kostüme für das Weihnachtsstück.
Der Vater eines Schülers steht vor mir. Pastor in unserem Ort. Fragt: «Wer ist dieses Kind?» Ich verstehe ihn sofort. Er weiß, daß ich weiß, wen er meint.
Ein Leuchten, das Seelen zur gleichen Empfindung bringt. Ich erzähle von Sonny. Sie ist noch nicht lange bei uns. Wohnte einige Jahre in Costa Rica. Vater war dort Entwicklungshelfer.
Ich komme nach Hause, beglückt wie noch nie nach einer Weihnachtsfeier.
«...und auf einmal war ein Leuchten...» empfängt mich mein Mann. Ich habe zu oft davon erzählt. Er übertreibt mit kicksender Stimme. Geflügeltes Wort für längere Zeit.
Drei Tage später. Heiligabend.
Mein Mann, unsere kleine Tochter und ich frohgestimmt in der Kirche. Kerzengeschmückte Weihnachtsbäume zu beiden Seiten des Altars. Viele Kinder. Ungeduldige Augen. «Ihr Kinderlein, kommet...» Unser Pastor auf den Stufen zum Altar. Die Weihnachtsgeschichte? «...
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