Weihnachtszauber 01
noch einen Schritt in die von Kerzenlicht erhellte Halle, und sie konnte erkennen, was zuvor in den Schatten verborgen gewesen war: das dichte braune Haar, die nachdenklichen dunklen Augen, die klaren, harten Linien seines Gesichts.
Er sah keinen Tag älter aus als damals, da sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
Seine Kleidung verriet immer noch exquisite und teure Schneiderkunst, seine ganze Person war von einer Aura der Autorität und Welterfahrenheit umgeben, die jahrelange Privilegien mit sich brachten. Neben seiner lässigen Eleganz hatte sie sich immer wie ein Bauerntrampel gefühlt. Heiße Scham überkam sie, als sie auf ihr graubraunes abgetragenes Kleid hinunterschaute.
„Dich sehen.“ Seine Stimme war tief und brachte in ihr zitternd eine Saite zum Erklingen. „Ich fand, dass wir schon zu lang voneinander getrennt sind.“ Aufmerksam betrachtete er sie. „Schön siehst du aus, Melicent.“
Es raubte ihr den Atem, während ihr Verstand gleichzeitig protestierte, das könne doch nicht sein. Hitzeschauer überliefen sie, wie sie da seinem verstörend intimen und lässigen Blick preisgegeben war. Er wirkte zu männlich, zu imposant für das öde, düstere Landhaus. Nervös presste Melicent die Hände zusammen, und dabei fiel ihr Blick auf ihre fleckige, ausgefranste Schürze. Die sinnliche Erregung machte tiefer Verlegenheit Platz. Egal, was er sagte, sie wusste, dass sie erschöpft und müde aussah. Schlimmer noch, sie hatte unbewusst gewisse Details über die Hypochondrie ihrer Mutter ausgeplaudert, ihre eigene Ungeduld und ihre angespannten finanziellen Verhältnisse. Und das, bevor er noch richtig zur Tür herein war.
„Du hättest uns von deinem Besuch benachrichtigen sollen.“ Sie widerstand der Versuchung, die Hände an die heißen Wangen zu legen. „Hoffentlich war die Reise nicht zu anstrengend? Die Straßen können um diese Jahreszeit recht gefährlich sein.“
Sie sah sich in der trübseligen, freudlosen Eingangshalle um. Sie war noch nicht einmal dazu gekommen, sie mit Immergrün weihnachtlich zu schmücken. Nicht dass ihr in diesem Jahr schon einmal festlich zumute gewesen wäre.
„Wir sind nicht recht darauf eingerichtet, Gäste zu beherbergen“, fuhr sie fort.
„Vielleicht würdest du es vorziehen, im Dorfgasthaus zu übernachten ...“
Sie wusste, dass sie dumm daherredete. Alex ergriff ihre Hände und brachte sie so zum Schweigen. Bedauern und Schmerz überkamen sie.
Ich wollte dich sehen, hatte er gesagt. Aber er hatte so lang damit gewartet. Sie hatte seine Abwesenheit als weiteren Beweis seiner Gleichgültigkeit gedeutet, dass er sich nie etwas aus ihr gemacht hatte. Ihr war von Anfang an bewusst gewesen, dass er sie nie hatte heiraten wollen. Sie hatte ihren Kummer und ihre Reue begraben und versucht, die dumme, kindische Verliebtheit zu unterdrücken, die sie für ihn empfunden hatte. Eigentlich hatte sie gedacht, es wäre ihr gelungen. Aber jetzt, mit nur einer Berührung, hatte er ihr gezeigt, dass sie sich geirrt hatte.
„Melicent“, sagte er sanft. Seine Lippen streiften ihre Wange und ließen sie erschauern. Ihr blieb die Luft im Hals stecken. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie zornig und verletzt war wegen seiner herzlosen Gleichgültigkeit und weil er sie all die Zeit so vernachlässigt hatte. Wie konnte sie gleichzeitig so empfinden und auf seine Berührung reagieren? Aber als sie aufsah und einem Blick voll dunklem Begehren begegnete, hätte sie beinahe aufgekeucht. Ihre Hand zitterte in der seinen. Er zog sie näher an sich.
Da wurde die Haustür aufgerissen, und ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren kam hereingestürmt. Der Moment war dahin. Das blonde Haar des Mannes war windzerzaust, seine Kleider stanken nach abgestandenem Bier. Schlitternd kam er zum Stehen und blinzelte sie leicht schwankend an.
„Melicent? Beaumont ? Was zum Teufel ...?“
„Alex, sicher erinnerst du dich noch an meinen Bruder Aloysius?“, fragte Melicent hastig.
Alex gab sie sanft frei. „Natürlich“, versetzte er. „Wie geht’s, Durham?“
Aloysius Durham reckte kampflustig das Kinn. „Ich sagte, was zum Teufel hast du hier zu suchen, Beaumont? Wie kannst du es wagen, hier einfach so hereinzuspazieren?
Am liebsten würde ich dich ins Gesicht ...“ Er geriet ins Stolpern, wäre beinahe gefallen und warf den Garderobenständer um.
„Er ist betrunken“, erklärte Melicent. „Ich muss mich für ihn wirklich entschuldigen.“
So etwas kam bei Aloysius
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