Weil du fehlst (German Edition)
kauen Bienen … Wie lange das her zu sein schien. Darius’ Worte. Wie in einem anderen Leben) und taten eine Weile gar nichts. Schneeflocken wirbelten vor dem Fenster.
»Ich muss nach Sterling Heights«, sagte ich schließlich leise und umklammerte meinen heißen Teebecher dabei.
»Das kenne ich, eine Kleinstadt am Rand von Massachusetts. Hübsch da«, antwortete Mr Rosen. »Viele sehenswerte Museen. Ein netter, alter Ortskern. – Aber warum zieht es dich ausgerechnet dorthin?«
Ich schluckte und kämpfte gegen meinen zugeschnürten Hals an.
»Mein … Vater ist dort«, sagte ich schließlich mühsam.
Ich
hatte
es
gesagt.
Mein Vater ist dort.
Mr Rosens Augen tauchten verwirrt in meine.
»Dein … Vater? Sagtest du nicht, er sei gestorben, als du noch klein warst?«
Alles tat mir auf einmal weh. Ich konnte nicht sprechen und nicht denken. Nur ein Strom von Tränen floss aus meinen brennenden Augen. Ich weinte und weinte, und Mr Rosen nahm mich in den Arm, vielleicht nur ein paar Minuten, vielleicht länger, vielleicht eine Ewigkeit.
Irgendwann schaffte ich es, ihm von Len zu erzählen. Von dem, was Amanda mir berichtet hatte, von meinen verlorenen und wiedergefundenen Erinnerungen. Die Wolke aus wütend summenden Wespen. Myron, der ihr Nest zerschlagen hatte aus Wut über Raymonds neue Familie, seine neuen Kinder, mich, Len und Oya.
Und dann?
Warum hatte Rabea geschwiegen in all den Jahren? Warum hatte sie gelogen? Raymond war nicht an Krebs gestorben, er war überhaupt nicht gestorben. Er lebte. Er lebte in Sterling Heights in Massachusetts, einer schönen Kleinstadt, wie Mr Rosen bestätigt hatte.
»Ich muss ihn sehen«, sagte ich und hob den Kopf. »Mein Großvater sagte, er sei krank seit der Sache mit Len. – Er lebt angeblich in Sterling Heights in einer Klinik. – Ich muss ihn sehen, verstehen Sie, Mr Rosen? Ich muss sehen, ob es stimmt. – Ob er tatsächlich lebt. – Ob er nicht tot ist. – Wie kann das sein? – Wie konnte meine Mutter uns nur so schrecklich belügen? – Das ist es, was ich nicht verstehe. – Wie konnte sie zulassen, dass wir Len vergaßen, und uns gleichzeitig einreden, dass unser Dad gestorben sei? – Was gibt das für einen Sinn? – Das ist doch einfach nur pervers und schizophren!«
Meine Stimme war immer lauter und schriller geworden. Ich kreischte wie verrückt.
In diesem Moment öffnete sich die Wohnzimmertür von House Rowan und ein recht dunkelhäutiger, glatzköpfiger Mann schaute herein.
»Störe ich?«, fragte er. In der einen Hand trug er, wie es schien, Einkäufe, in der anderen hatte er eine Mundharmonika.
»Das ist Zizmo«, stellte Mr Rosen uns vor. »Zizmo, das ist Kassandra, eine Schülerin meiner Schule. – Du bist aber früh zurück.«
Ich schrumpfte in mich zusammen. Was machte ich hier bloß? Warum belästigte ich Mr Rosen mit meinen Angelegenheiten? Warum schrie ich herum wie eine Durchgedrehte? Warum war ich bloß hier?
»Nett, dich kennenzulernen«, sagte Zizmo in diesem Moment, so als habe er mein Geschrei überhaupt nicht gehört, und stellte die Einkaufstasche ab. »Ja, alles ging heute blitzschnell. – Isst du heute Abend mit uns, Kassandra? Es gibt Frittata Navidad , mexikanisches Weihnachtsomelette. Sehr lecker.«
»Zizmo stammt aus Mexico«, erklärte Mr Rosen. »Und er ist ein verdammt guter Koch.«
»Ersteres nur zur Hälfte, Elija, aber Teil zwei deiner Aussage trifft hundertprozentig zu«, korrigierte Zizmo grinsend. »Meine Ma hatte damals vor dreißig Jahren einfach nur noch keine Lust auf einen langweiligen Durchschnitts-Ami und vergnügte sich lieber mit einem feurigen, Banjo spielenden Mexikaner in Tijuana. Wenigstens für ein paar Sommerwochen. Und voilà – war ich unterwegs!«
Er lachte zufrieden und begann, ein munteres Stück auf seiner Mundharmonika zu spielen.
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich wollte weg, weg, weg …
Ich musste weg. Ich musste nach Sterling Heights!
Elija Rosens Gedanken (in knapper Zusammenfassung) :
– Was für eine merkwürdige Geschichte …
– Viel zu ertragen und schwer zu verstehen.
– Ich sollte mich eigentlich nicht einmischen!
– Was ist mit den Großeltern?
– Was mit der Mutter?
– Wem gegenüber loyal sein?
– Andererseits ist Kassandra fast achtzehn und hat ein Recht zu verstehen, was los ist mit ihrem Leben.
– Große, traurige Augen in einem sehr schmalen, sehr blassen, überforderten Gesicht.
MR R.: Ruf doch deine
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