Weil du fehlst (German Edition)
künstlerisch geformten Wegen, teilweise über kleine Holzbrücken, unter denen Wasser dahinfloss – wir folgten kleinen Wegweisern –, und dann endlich ein Kommunikationszentrum für Besucher. Besucher bitte anmelden!
In diesem Pavillon aus blauem Holz trafen wir eine große, hagere, ernste Frau, die Zeitung lesend an einem Besuchertisch saß. Um ihren Hals baumelte eine türkisfarbene Brille und eine Bernsteinkette. Ansonsten war der helle Raum menschenleer.
»Kassandra …«, sagte sie, als Mr Rosen und ich zur Tür hereinkamen.
Sie roch immer noch nach Orangen, es war wie früher. Sie stand auf, aber sie umarmte mich nicht, und ich umarmte sie nicht. Sie sah alt und traurig aus.
»Ich habe auf dich – gewartet«, sagte sie erklärend. »Deine … Mutter hat mich angerufen – heute früh.«
Plötzlich telefonierten sie anscheinend alle. Rabea, Amanda, Ian – und jetzt Marjorie. Plötzlich waren sie alle wieder da. Wie war das möglich?
»Und Sie sind …?«, fragte Marjorie Armadillo, meine lang verschollene Großmutter väterlicherseits. Was tat sie hier? Was – um alles in der Welt tat sie hier? Ich wollte schreien und wegrennen, aber ich stand wie erstarrt.
Unterdessen stellte Mr Rosen sich vor.
In dem Moment ging hinter uns schon wieder die Tür auf, und zusammen mit der gleichen nassen, nach Winter riechenden Regenluft, durch die wir eben erst gelaufen waren, kam ein Mann in Jeans und einem grauen Kapuzenshirt herein.
»Mein Enkel Myron«, sagte Marjorie. »Kassandra, erinnerst du dich an Myron?«
Myron war groß wie Marjorie, dünn, ernst und hager wie sie. Er zog die graue Kapuze vom Kopf und fuhr sich durch kurze, helle Haare.
»Hi, Kassandra«, sagte er. Mehr nicht.
Hi, Kassandra ?
Er hatte meinen Bruder getötet. Er war ein Monster. Ich wollte ihn nicht sehen.
Aber er blieb. Er umarmte Marjorie und fragte:
Myrons Frage :
»Wie geht es ihm heute?«
Ich hörte jemanden wimmern. Und dieser bescheuerte Jemand war natürlich ich.
»Es geht ihm wie immer«, antwortete Marjorie leise.
Dann machten wir uns auf den Weg über weitere künstlich angelegte Wege, nette, geschwungene Holzbrücken, vorbei an einem kleinen Weiher und so weiter.
»Ein anthroposophisches Pflegeheim«, erklärte Marjorie an Mr Rosen gewandt. Oder an mich? Pflegeheim? Warum wurde mein Vater gepflegt? Was hatte er?
»Lange … nicht gesehen«, sagte Myron unterdessen zu mir und pirschte sich, ich kann es nicht anders nennen, an meine Seite.
Ich gab ihm keine Antwort.
Ich lief wie in Trance.
Wohin war ich unterwegs? Zu meinem Vater , der seit Jahren gestorben war? Ich hatte immerzu das Gefühl, nicht vernünftig atmen zu können. Ab und zu schnappte ich nach Luft wie verrückt, und dann wieder zog sich meine Kehle so fest zu, dass ich nicht mehr ausatmen konnte. Meine Finger begannen zu kribbeln, dann meine Hände – und schon im nächsten Moment hatte ich das Gefühl, meine kompletten Arme bestünden aus Armeen von durchgedrehten Ameisen. Meine Finger wurden eisig und starr.
Und dann waren wir da.
Die Tür zu meinem Vater :
»Raymond!«, sagte Marjorie.
»Dad …«, sagte Myron.
Da war er. Mein Vater. Ich blinzelte, weil auf einmal alle Konturen verschwammen. Ich sah die schemenhafte Gestalt eines gebeugten, alten Mannes. Er saß in einem hellen Zimmer und … tat nichts.
»Raymond? Wir haben dir heute … jemanden mitgebracht, den du … lange nicht gesehen hast! Raymond? Sieh doch: Kassandra ist da …«
Ich sah mich gerahmt an der Wand. Mich, Len, Oya und Myron.
Gerahmte Menschen, die es so nicht mehr gab. Oya zum Beispiel war ein kugelrundes Kleinkind mit Grübchen im Gesicht und Bäckchen, die so dick waren, dass sie ihre Augen fast zuquetschten.
Ich: mit dünnen, geflochtenen Zöpfchen und Hand in Hand mit Len, der auf dem Bild ein zugeklebtes Auge hat.
Und Myron, klein, vergnügt, lachend, winkend.
Raymond saß da, nah am Fenster, und schaute durch mich und uns alle hindurch. Er war blass und ernst und unsagbar still. Noch nie hatte ich eine stillere Stille erlebt. Er hatte auch keine Locken mehr – hatte er je welche gehabt? –, sondern dünnes, schütteres, staubfarbenes Haar. Die wenigen, kostbaren Erinnerungen, die ich an ihn gesammelt hatte, drohten für immer zu zerrinnen in diesem Moment.
»Was … was hat er? Was ist … mit ihm passiert?«, fragte ich Marjorie und sah gleichzeitig, dass mein Vater sehr warm angezogen war: Unter seiner Jogginghose lugte ein
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