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Weil du mich siehst

Weil du mich siehst

Titel: Weil du mich siehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Inusa
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EIN GUTER SCHWIMMER. ER … ER WAR EINFACH NICHT MEHR DA UND HAT MICH MIT UNSEREM WÜTENDEN VATER ZURÜCKGELASSEN.
     
    Paula konnte Finns Gesicht nicht sehen, nicht sehen, wie Tränen ihm die Wangen hinunter rannen. Doch sie spürte seinen Schmerz, in jeder Berührung seines Fingers, sie merkte, wie er zitterte. Zuerst war es schwer, die Buchstaben zu entziffern, und gelegentlich musste sie nachfragen, ob sie das Wort richtig verstanden hatte. Doch die Methode war gut, sie hatten einen Weg gefunden, sich auszutauschen, ohne Blickkontakt und ohne gesprochene Worte.
     
    Für diese wenigen Sätze, die man in fünf Minuten gesagt hätte, brauchten sie eine gute halbe Stunde. Doch was machte das schon? Sie beide hatten nichts weiter vor, hatten keinen Ort, wo sie hin mussten, keinen Menschen, der sie erwartete. Beide gingen keiner Arbeit nach. Sie brauchten sich keine Gedanken zu machen, wie lange sie hier sitzen würden. Es könnte den ganzen Tag dauern.
     
    »Gibst du dir selbst die Schuld an Barnes Tod?«, fragte Paula.
     
    NATÜRLICH. MEIN VATER HATTE MICH MIT SEINER AUFSICHT BETRAUT UND ICH HABE NICHT GUT GENUG AUFGEPASST.
     
    »Aber er war immerhin neun Jahre alt. Andere Kinder in dem Alter spielen allein, ohne Aufsicht. Es kann immer was passieren.«
     
    ES HÄTTE ABER NICHTS PASSIEREN DÜRFEN.
     
    »Ja. Aber es ist nicht deine Schuld.« Sie versuchte zu machen, dass er sich besser fühlte, wusste aber im selben Moment, dass es vergebens war. Nichts konnte machen, dass man sich besser fühlte.
     
    Er sah sie an, diese wundervolle Frau, der erste Mensch, der ihm jemals gesagt hatte, dass es nicht seine Schuld war. Wenn er nur selbst auch daran glauben könnte.
     
    Er schrieb nichts mehr. Stattdessen hörte sie ein leises Schluchzen. Oh nein, weinte er etwa? Das hatte sie nicht gewollt. Darüber zu sprechen musste ihn sehr mitgenommen haben.
     
    »Ist alles okay?«, fragte sie und hielt seine Hand.
     
    JA. ES TUT MIR LEID.
     
    »Dir muss nichts leidtun, Finn. Bei mir kannst du ganz du selbst sein, wenn du weinen musst, dann weine ruhig. Lass all deinen Schmerz raus, manchmal tut das gut.«
     
    Jetzt hörte sie, wie er weinte. Mitfühlend streckte sie ihre Hand aus und tastete ihn ab, sie führte ihre Hand an sein Gesicht und berührte seine Tränen.
     
    »Es ist alles gut, Finn. Ich bin ja da. Alles wird gut werden, vertraue mir.«
     
    Es war schon seltsam, wie eine verlorene Seele einer anderen Mut machen wollte, Zuversicht geben wollte. Wo sie doch selbst an sich zweifelte, Angst vor so ziemlich allem hatte. Vielleicht sprach sie in gewisser Weise auch zu sich selbst.
     
    Finn konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal solche Zuneigung erfahren hatte, solche Worte gehört, solch eine Berührung gespürt hatte. Es musste damals gewesen sein, als seine Mutter noch lebte, doch das war schon so verdammt lange her.
     
    Er konnte es nicht mehr zurückhalten. All sein Schmerz, all seine Trauer, all seine Wut, all seine Verzweiflung kamen in ihm hoch und platzten heraus. Er weinte wie ein Baby und lehnte sich an Paulas Schulter, während sie ihn einfach nur hielt und für ihn da war.
     
    Lange saßen sie so da, eng aneinander geschmiegt. Es war nichts Sexuelles an dieser Umarmung, nur Freundschaft, innige Anteilnahme und füreinander da sein.
    Paula hielt Finn aufrecht, war ein Floß für ihn, das ihn vom Ertrinken abhielt. Sein Gesicht war inzwischen ganz nass, ebenso wie ihr Pulli, doch beide kümmerte es nicht.
     
    Irgendwann löste sich Finn von ihr. So liebevoll sie sich auch um ihn gesorgt hatte, so wenig es ihn vor wenigen Minuten noch geschert hatte, welchen Eindruck er vor ihr machte, umso peinlicher berührt war er auf einmal. Er hatte geweint, wie ein kleines Kind, und das vor der Frau, die er für sich gewinnen wollte, für die er etwas nie Gekanntes empfand. Was dachte sie jetzt nur von ihm?
     
    Wütend auf sich selbst stand er auf.
     
    »Finn. Wo willst du hin?«
     
    Er machte sich nicht die Mühe, ihren Arm zu nehmen und etwas zu schreiben. Stattdessen rannte er einfach raus und ließ die Tür hinter sich zufallen.
     
    Paula sah ihm nach, diesem verlorenen Jungen, der noch so jung war und schon eine gebrochene Seele hatte. Sie konnte ihn gut verstehen, verstand sogar, warum ihm gerade alles zu viel geworden war und er einfach weglaufen musste. Wie oft wollte sie im Leben schon weglaufen?
     
    Doch auch wenn er selbst noch nicht mit dieser neuen Erfahrung zurechtkam, dem

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