Weil du mich siehst
nicht einmal mehr, wie sie hieß. Manchmal schien alles, was vor dem Unfall war, so verschwommen, so unwirklich. Als wäre es nur ein Traum gewesen, der längst ausgeträumt war.
Seitdem er nicht mehr sprach, hatte er keinen Kontakt zu irgendeinem Mädchen gehabt. Er hatte nie das Verlangen danach gehabt, er hatte genug mit seinen Dämonen zu kämpfen, da war ihm die Liebe nie wichtig vorgekommen. Dass er der Liebe überhaupt irgendwann einmal begegnen würde, war ihm nie in den Sinn gekommen.
Und doch war sie jetzt da. Die Liebe. Dieses Gefühl, das so sehr Besitz von ihm ergriff, dass es ihm unheimlich war. Nachts wachte er auf und konnte nicht mehr einschlafen, weil sie einfach nicht mehr verschwinden wollte. Dann musste er sich erst einmal Abhilfe verschaffen, dieses Verlangen irgendwie bändigen, bevor er irgendwann im Morgengrauen weiterschlafen konnte.
Er dachte Tag und Nacht an sie – Paula. Der schönste, wundervollste, liebenswerteste, zärtlichste, geduldigste Mensch, dem er je begegnet war. Er liebte sie, über alles. Er wollte mit ihr zusammen sein, und doch hatte er Angst davor. Noch dazu kam, dass er sich vor ihr zum Deppen gemacht hatte. Zum Glück hatte sie nicht sehen können, wie er geflennt hatte wie ein Schwächling; dass sie es hören konnte, war schlimm genug.
Er war nicht zu den Sitzungen gegangen. Er hatte solche Angst davor, ihr wiederzubegegnen. Wie würde sie reagieren? Würde sie ihn bemitleiden? Ihn für einen Versager halten? Würde sie ihn wiedersehen, wiedertreffen wollen? Würde sie ihm ihr Herz öffnen? Gab es eine Chance, dass sie ihn irgendwann zurücklieben würde?
Paula. Sie war so schön. So umwerfend. Genauso kaputt wie er, was sie für ihn noch hinreißender machte. Sie verstand ihn, sie hatte seine Wunden, sein gebrochenes Herz. Sie hatte Verlust erlitten, sie hatte ihr Augenlicht verloren, wie er seine Stimme. Sie war eine verlorene Seele – genau wie er. Sie war, was er brauchte, was er begehrte.
Wieder war das Verlangen nach ihr so mächtig, dass er an Ort und Stelle die Hose runterließ und seiner Begierde nach Paula Freiheit verschaffte.
♥
Er war gekommen. Seit dem Anruf hatte Paula nichts von ihm gehört, doch an diesem Abend war er gekommen.
Ihr ging es an diesem Tag nicht sehr gut. Sandra hatte angerufen und ihr gesagt, dass Damian krank sei. Er habe die Windpocken und liege mit Fieber im Bett. Sie müssten das Treffen verschieben. Nicht nur machte es Paula wütend, nicht bei Damian sein zu können, wo es ihm nicht gutging, auch hatte sie sich bereits so auf den Samstag gefreut. Sie hatte es sogar ganz allein mit ihrem Blindenstock in den Kiosk am Ende der Straße geschafft und ihm seine Lieblingsgummibärchen gekauft, die sie ihm am nächsten Tag mitbringen wollte.
Daraus würde nun nichts werden. Das mit Damian und dass Finn sich nicht gemeldet hatte, hatte ihr einen schweren Schlag versetzt, sie hatte sogar überlegt, heute Abend zu Hause zu bleiben. Doch sie wusste, dass es besser war, in der Runde zu sitzen, als sich traurig, einsam und verlassen in ihr Loch zu verkriechen. Und wie es aussah, war sie für ihre Tapferkeit belohnt worden.
Paula saß bereits, und als Connie Finn den Raum betreten sah, machte sie für ihn Platz, damit er neben Paula sitzen konnte.
Finn setzte sich und lächelte Connie dankbar zu. Und nun? Sollte er Paulas Hand nehmen, als wäre nichts geschehen? Er musste es wagen, musste ihre Reaktion testen. Ängstlich und vorsichtig näherte er sich ihr, bis seine Finger ihren Weg zu den ihren von ganz allein fanden.
Paula sah in seine Richtung. War das …? Ja, er war gekommen. Sie strahlte. »Hallo, Finn.«
Zur Antwort drückte er nur ihre Hand.
»Schön, dass du da bist.« Sie war überwältigt vor Freude. Fast hätte sie gedacht, sie würde ihn nicht wiedersehen . Sie konnte nicht anders, als ihn zu ertasten, sich seinem Gesicht zu nähern und ihm einen kleinen Kuss auf die Wange zu geben.
Finn berührte seine Wange. Sie hatte ihn geküsst. Ihre Lippen zu spüren war das Schönste, was ihm je widerfahren war. In seinem Gesicht machte sich ebenfalls ein Strahlen breit und beide saßen die ganze Sitzung über glücklich Hand in Hand zusammen.
Nichts hatte sich geändert. Beider Ängste waren unbegründet gewesen. Die Befangenheit war vorüber und etwas anderes hatte sich gebildet: eine innige Vertrautheit, die ihnen keiner mehr nehmen konnte.
Keines
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