Weil du mich siehst
Wochenende zu erzählen und fragte dann, ob jemand das Gleiche tun wolle. Nein, das wollte Paula ganz bestimmt nicht. Niemals hätte sie den anderen von ihrem Samstag mit Damian erzählt, niemals hätte sie sie teilhaben lassen an den schönen Momenten mit ihm oder an ihren Ängsten, ihn nie wieder bei sich zu haben oder an dem Verlustschmerz, den sie die ganze Zeit über gefühlt hatte. Auch wollte sie nicht erzählen, wie schlimm es gewesen war, sich von Damian zu verabschieden. Schlimm genug, dass sie selbst all diese Dinge wusste, es würde es bestimmt noch schlimmer machen, wenn andere davon wüssten.
Man solle sich mitteilen, den Schmerz nicht in sich hineinfressen. Man solle sein Leid teilen, dann würde es weniger werden. Geteilte Freud, doppelte Freud, geteiltes Leid, halbes Leid. Doch noch immer konnte sie sich nicht dazu aufraffen, den anderen gegenüber etwas preiszugeben. Es war zu schwer.
Finn. Vielleicht könnte sie sich ihm öffnen. Vielleicht war die Tatsache, dass er nichts auf ihr Mitgeteiltes antworten konnte, sie nicht verurteilen konnte, erleichternd.
Sie fragte sich die ganze Zeit über, während Johannes erzählte, während Dennis berichtete und während Connie sprach, wie sie sich nur je mit Finn verständigen sollte.
♥
Die Sitzung war zu Ende. Die Gruppenmitglieder verließen ihre Plätze und gingen hinüber zum Tisch, auf dem Johannes jedes Mal ein kleines Büfett aufbaute. Connie, die neben ihr gesessen hatte, stand auf und fragte, ob sie ihr auch etwas mitbringen könne.
»Ein Glas Wasser vielleicht, das wäre nett.«
»Kommt sofort«, sagte Connie. Sie sah plötzlich Finn vor sich stehen, der fragend auf ihren Stuhl deutete. Connie lächelte und nickte nur. Was für ein hübsches Paar die beiden doch wären , dachte sie sich, und sie wären so gut füreinander.
Finn setzte sich auf Connies Stuhl und sah Paula an. Als ob sie es spürte, sah sie in seine Richtung. Er traute sich, behutsam ihre Hand zu nehmen und sie in seine zu legen.
Paula fühlte, wie sich jemand neben sie setzte und wusste sofort, wer es war. Kurz darauf wurde ihre Hand zärtlich berührt und von einer anderen, großen, starken Hand umfasst. Sie musste lächeln.
»Hallo, Finn.«
Er drückte ihre Hand leicht.
»Wie geht es dir?«
Jetzt war der Moment gekommen. Er wollte es ausprobieren.
Sie hatte damit gerechnet, dass er zur Antwort wieder ihre Hand drücken würde, doch stattdessen schob er den Ärmel ihres Pullovers ein wenig höher.
Sie wusste, was er jetzt zu sehen bekam. Sie schämte sich. Nun würde er sich sicherlich von ihr abwenden.
Verwundert und mitfühlend sah er sich Paulas Arm an. Er kannte das, was er sah – sein Arm sah genauso aus. Er war mit tiefen Narben übersät.
Schnell, bevor jemand anderes sie sehen konnte, zog er ihren Ärmel wieder darüber, um sie zu verdecken, und versuchte es mit dem anderen Arm. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass die meisten Menschen, die sich so etwas antaten, es immer wieder am selben Arm machten; und er hatte Glück: Der rechte Arm war heil, vollkommen, ohne Spuren der Verzweiflung.
Was tat er da? Wider Erwartens hatte er sich nicht abgewandt, sondern hatte vorsichtig ihren Arm wieder zugedeckt. Dann hatte er ihren anderen Ärmel hochgezogen, dort, wo alles gut war.
Was dachte er jetzt wohl von ihr? Dass sie schwach war? Dass sie krank war? Dass sie verrückt war? Es wäre nicht schlimm, würde er das denken, denn alles stimmte, irgendwie.
Im nächsten Moment spürte Paula, wie zärtlich, mit ein wenig Druck, etwas ihren Unterarm entlangfuhr. Er schrieb etwas, schrieb etwas auf ihren Arm.
GUT.
»Dir geht es gut?«, fragte sie.
JA.
»Das freut mich.«
UND DIR?
Sie schwieg einen Moment. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Sie entschied sich, ehrlich mit ihm zu sein. »Ich hatte ein ganz schön hartes Wochenende.«
DAS TUT MIR LEID. Er schrieb ein Wort nach dem anderen.
Paula lächelte. »Eine tolle Idee. So können wir uns verständigen.«
ES DAUERT ABER SEHR LANGE.
»Das macht nichts.« Paula lachte. »Ich habe Zeit. Darf ich dich abtasten, Finn? Ich würde gern wissen, wie du aussiehst.«
Er führte ihre Hand an sein Gesicht und ließ es sie befühlen, betasten. Sie fuhr seine Nase entlang, seine Wangenknochen, sein Haar, sein Kinn, am Ende seinen Mund. Er war genauso, wie Paula ihn sich vorgestellt hatte.
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