Weil Ich Euch Liebte
Zu mir sagte sie: »Was ist denn mit ihr?«
»Gestern Abend haben wir sie noch gesehen. Kelly war zum Übernachten –«
»Was sagst du da?«, fragte Marcus. »Kelly hat bei dieser Frau – dieser Ann – übernachtet?«
»Genau. Aber Kelly rief mich an. Sie wollte nicht bleiben, und ich sollte sie wieder abholen. Und kurze Zeit später –«
»Daddy!«
Alle drei wandten wir uns der Treppe zu. Aus dieser Richtung war Kellys Schrei gekommen.
»Daddy, komm her! Schnell!«
Ich nahm zwei Stufen auf einmal und war gute zehn Sekunden vor Fiona und Marcus in ihrem Zimmer. Kelly war noch im Schlafanzug. Sie war an ihrem Schreibtisch, saß ganz weit vorn auf der Stuhlkante. Eine Hand lag auf der Maus, die andere zeigte auf den Computerbildschirm. Es war eine der Seiten, auf denen sie mit ihren Freundinnen chattete.
»Emilys Mom«, sagte sie. »Da steht was über Emilys Mom.«
Hinter mir sagte Marcus: »O Gott.«
»Ich wollte es dir gerade sagen.« Ich legte einen Arm um Kelly und warf Marcus und Fiona einen Blick zu. Raus hier. »Ich hab’s selbst gerade erfahren, als die beiden klingelten.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Kelly. »Ist sie einfach so gestorben?«
»Ich weiß es nicht. Ich meine, wahrscheinlich. Als ich heute Morgen bei ihr anrief –«
Kelly wollte meinen Arm abschütteln. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht anrufen.«
»Schon gut. Es spielt keine Rolle mehr. Ich dachte, Emilys Mutter sei am Apparat, aber es war ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter. Sie hatte keine Zeit zum Reden, weil Mrs. Slocum gestorben ist.«
»Aber ich hab sie doch gesehen.«
»Ich weiß. Das ist ein Schock für dich.«
Kelly überlegte einen Augenblick. »Was soll ich tun? Soll ich Emily anrufen?«
»Ich glaub nicht. Sie und ihre Familie brauchen jetzt Zeit für sich.«
»Ich fühl mich ganz komisch.«
»Ich weiß.«
Wir saßen da, und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich hielt sie fest und streichelte ihren Arm, während sie weinte.
»Meine Mom und jetzt Emilys Mom«, sagte sie leise. »Vielleicht bin ich … vielleicht bin ich ja ein Unglücksbringer.«
»Sag doch so was nicht. Das darfst du nicht mal denken.«
Wir saßen noch eine Weile da, ohne zu sprechen, dann hatte ich das Gefühl, ich müsse mit ihr über unseren Besuch reden. »Deine Großmutter und Marcus wollten dich abholen. Nur für heute Nachmittag.«
Kelly schniefte. »Ach.«
»Und ich glaube, sie will dir ein paar Schulen in Darien zeigen. Hast du eine Ahnung, warum?«
Sie nickte. Sie schien nicht besonders überrascht. »Wahrscheinlich, weil ich ihr gesagt habe, dass ich meine Schule hasse.«
»Online«, sage ich.
»Mhm.«
»Tja, jetzt will sie, dass du unter der Woche bei ihnen wohnst und in Darien zur Schule gehst. Am Wochenende wärst du wieder bei mir.«
Sie schlang ihre Arme fest um mich. »Ich glaube nicht, dass ich das möchte.« Pause. »Aber dann wüssten die anderen Kinder wenigstens nichts über mich. Und auch nicht, was Mom getan hat.«
Eine Minute blieben wir so, eng umschlungen, ich tätschelte ihr den Hinterkopf.
»Wenn Emilys Mom eine Krankheit hatte, Vogelkrippe zum Beispiel, bekomm ich sie dann auch? Weil ich in ihrem Schlafzimmer war?«
»Es heißt Vogelgrippe, und ich glaube nicht, dass man in ein paar Stunden daran sterben kann. An einem Herzinfarkt vielleicht. Irgendwas in der Art. Aber nichts, womit du dich anstecken könntest.«
»Ein Herzinfarkt ist nicht ansteckend?«
»Nein.« Ich sah ihr in die Augen.
»Auf dem Video sieht sie überhaupt nicht krank aus.«
Ich stutzte. »Was?«
»Auf meinem Handy. Sie sieht ganz gesund aus.«
»Wovon redest du?«
»Da im Schrank, da hatte ich das Handy bereit, damit ich Emily filmen kann, wenn sie die Tür aufmacht. Das hab dir doch erzählt!«
»Du hast mir aber nicht erzählt, dass du ihre Mutter gefilmt hast. Ich dachte, du hast dein Handy weggesteckt, als Mrs. Slocum hereinkam.«
»Na ja, nicht sofort.«
»Hast du das Video noch?«
Kelly nickte.
»Zeig’s mir.«
Zwölf
»Darren, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Er saß auf dem Beifahrersitz eines Zivilfahrzeugs. Hinter dem Lenkrad saß Detective Rona Wedmore von der Polizei in Milford, eine kleine, gedrungene Schwarze, Mitte vierzig. Sie trug eine hellbraune Lederjacke und Jeans, an ihrem Gürtel hing eine Pistole. Sie hatte eine unauffällige Kurzhaarfrisur. Die dezenten silbergrauen Strähnen, die ihr Haar seit kurzem unkaschiert durchzogen, waren Ausdruck ihrer Unabhängigkeit
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