Weil sie sich liebten (German Edition)
lassen. Du kommst ganz gut über die Runden; du kannst sogar jede
Woche etwas zurücklegen. Du hast dich entschieden, in diesen Ort zu ziehen,
weil deine Schwestern in der Nähe wohnen, die dir sehr geholfen haben. Sie
haben Rob sein Leben lang von Herzen geliebt, und du hast den Eindruck, dass
sie das trotz des Skandals immer noch tun. Sie haben die Sache weggepackt, in
irgendeine Schublade gesteckt. Der Rob, den sie sehen, wenn sie zu Besuch
kommen – und Rob dann gerade zu Hause ist –, ist der, den sie ihr ganzes Leben
gekannt haben, nur der alte Ehrgeiz fehlt. Das besorgt sie, sagen sie. Er war
ein so vielversprechender Junge.
Du öffnest den Kühlschrank, und während du überlegst, was du zum
Abendessen machen könntest, siehst du nach, was da ist, damit du weißt, was du
einkaufen musst. Manchmal legst du Rob einen Zettel auf den Tisch, dann macht
er die Einkäufe. Vielleicht wirst du das heute auch tun. Du bist müder als
sonst, aber vielleicht ist das nur die Jahreszeit. Draußen ist es noch dunkel,
und wenn du heute Abend von der Arbeit kommst, wird es wieder dunkel sein. Du
machst den Kühlschrank zu und wirfst einen Blick auf den Poststapel, der sich
angesammelt hat. Am besten, du nimmst ihn dir gleich vor, sonst wächst er nur
immer weiter, bis er schließlich umstürzt und die Briefe alle auf dem Fußboden
landen.
Du machst drei Häufchen: Reklame, Rechnungen, Persönliches. Vom
ersten gibt es immer mehr als vom zweiten, und vom zweiten viel mehr als vom
dritten. Persönliche Briefe sind selten, aber vermutlich ist das bei den
meisten Leuten so. Du stößt auf ein Schreiben von der Universität Vermont, das,
in Tinte, an dich adressiert ist. Einen Augenblick bist du verwirrt, glaubst,
Rob hätte sich um einen Studienplatz beworben und versäumt, es dir zu sagen,
und nun wollten sie Geld, wogegen du überhaupt nichts einzuwenden hättest, du
wärst ja unglaublich froh, wenn er studieren will, obwohl du nie gedacht
hättest, dass er sich ausgerechnet eine Universität in Vermont aussuchen würde.
Du reißt den Umschlag auf und liest. Eine Wissenschaftlerin möchte
dich zu den Ereignissen im Januar 2006 befragen. Der Brief ist höflich und garantiert absolute
Diskretion. Das Interview ist Teil einer Studie über Alkoholkonsum und
männliche Verhaltensweisen an Sekundarschulen. Das Schreiben ist mit Jacqueline Barnard unterzeichnet. Du liest es ein zweites
Mal, um sicherzugehen, dass du nichts übersehen hast. Dann zerreißt du es
systematisch in kleine Fetzen und wirfst die ganze Bescherung in den
Papierkorb. Du wirst nicht über den Skandal sprechen. Du wirst keine Fragen
beantworten, ganz gleich, von wem. Du fragst dich, ob dein Sohn auch einen
solchen Brief erhalten hat. Du siehst die restliche Post durch, es ist nichts
von der Universität Vermont an deinen Sohn darunter.
Nachdem Rob aus Avery weggegangen war, kamen noch ein halbes
Jahr lang Broschüren von Universitäten, die um Robs Interesse warben. Es war
eine Qual, sie in der Post zu finden. Wahrscheinlich, dachtest du, war Rob
aufgrund der Ergebnisse seines Studierfähigkeitstests auf eine Liste von
Schülern gesetzt worden, denen man solche Hefte zuschickte. Und wahrscheinlich,
dachtest du weiter, hatte nie jemand sich diese Listen genauer angesehen. Denn
hätten sie sonst, fragst du dich, eine Broschüre an einen Schüler geschickt,
der von der Schule geflogen war, sich unzüchtigen Verhaltens schuldig bekannt
hatte und sich nun dem Ende der zweijährigen Bewährungszeit näherte, die ihm
auferlegt wurde?
Das ist auch eine Sorge, die dich zunehmend quält: Dass Rob
ausziehen und weggehen wird, wenn die Bewährungszeit um ist, er den Wohnsitz
wechseln darf und sich nicht mehr regelmäßig bei seinem Bewährungshelfer melden
muss. Er hat so etwas nie erwähnt, aber du machst dir trotzdem Gedanken. An
guten Tagen stellst du dir vor, dass er irgendwo ein Studium anfangen wird. Arthur
würde es bezahlen, da bist du sicher. An schlechten Tagen hast du Angst, dass
du ihn nie wiedersiehst.
Du gehst ans Fenster und schaust zur Straße hinunter. Dein Wagen
steht an seinem gewohnten Platz in der Einfahrt. Dir kommt in den Sinn, was du
dir ein Leben lang in deiner Phantasie ausgemalt hast: in den Wagen zu steigen
und einfach zu fahren. Du hast gerade in letzter Zeit viel an diese Möglichkeit
gedacht und du weißt genau, wo von dem Fenster aus, an dem du stehst,
Nordwesten ist. Du hast dir die Fahrt sogar schon im Einzelnen ausgemalt.
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