Weil sie sich liebten (German Edition)
ausgelöst. War es möglich, dass er Befreiung durch das simple
Niederschreiben einer Chronologie der Ereignisse gesucht hatte? Oder hatte er
noch einmal, im Kleinen, in die Geschichte eintauchen wollen, um vielleicht
ihre Bedeutung zu erkennen? Weitreichendes und Schreckliches war vielen
Menschen infolge von Mikes Affäre mit Anna geschehen. Wäre diese
Liebesbeziehung nicht gewesen (oder hätte Silas nicht davon erfahren, wobei
Mike es für unrealistisch hielt, zu glauben, dass nicht irgendwann jemand sie
ertappt hätte), so hätte Silas an jenem Samstagmorgen nicht getrunken, er hätte
nicht während des Spiels den Ball ins Publikum geworfen und er wäre am Abend nicht
zu J. Dot gegangen. Silas wäre
stattdessen mit Noelle zusammen gewesen.
Mike hatte einmal die Bilanz der Zerstörung gezogen. Ein Junge tot.
Zwei der Schule verwiesen und aller Chancen auf ein Studium an einer
Eliteuniversität beraubt. Ein todunglückliches junges Mädchen. Ein zweites, das
untergetaucht war, um sich neu zu erfinden (dies jedenfalls versuchte, wie er
gehört hatte). Zwei Scheidungen. Eine Ehe kaputt und sinnlos. Zwei gebrochene
Mütter. Eine dritte Mutter wie tot. Ein Mann, der seinen Sohn und seine Frau
verloren hatte. Eine Schule, die in Verruf geraten war. Eine Schule im
Todeskampf. Eine gespaltene Stadt. In der ganze Familien nicht mehr miteinander
sprachen. Aus der Leute fortzogen. Hatte diese Sache irgendetwas Gutes hervorgebracht?
Auch nur die geringste Kleinigkeit? Und was war mit den vielen anderen
Schülern, die von angesehenen Universitäten abgelehnt worden waren, nur weil
sie von der Avery Academy kamen? Es ließ
sich nicht mit Sicherheit sagen, aber Mike vermutete, dass der Name Avery bei einigen
dieser Entscheidungen eine Rolle gespielt hatte. Er dachte auch an die vielen anderen
Schüler, die zur Zeit des Skandals auf der Schule waren, und an die vielen
Fragen, die sie würden beantworten müssen, ihren Eltern sowie ihren Freunden.
Ihren Abschlusszeugnissen haftete ein Hautgout, etwas unbestimmt Anrüchiges
fast, an. Man konnte das Ausmaß der Zerstörung nicht berechnen; es war
vielleicht grenzenlos.
Mike schloss die Tür des Glaskastens hinter sich und bezahlte unten
seine Rechnung. Dann ging er zu seinem Wagen, der auf dem Platz hinter dem
Gasthof stand. Obwohl das Hotelpersonal kräftig schippte und die Gemeinde
räumte, häufte sich der Schnee immer weiter. Er fiel schneller, als er entfernt
werden konnte. Es war, überlegte Mike, nicht gerade der günstigste Zeitpunkt
für eine Autofahrt nach New York. Trotzdem beschloss er, es zu versuchen. Im
schlimmsten Fall konnte er immer in einem anderen Hotel oder Motel Zuflucht
suchen, bis die Straßen wieder frei waren. Jetzt musste er erst einmal hinaus
aus diesem Touristennest.
Am Ortsende kam er zu einer Kreuzung. Rechts lag New York. Links
führte eine Straße nach Norden, tiefer nach Vermont hinein. Er zögerte vor der
Kreuzung, bis hinter ihm ein LKW -Fahrer hupte.
Einer unwillkürlichen Regung nachgebend, bog Mike nach links ab.
Die Straßen wurden sofort schlechter, waren weniger gewissenhaft
geräumt, weniger befahren. Mike wusste, wie man bei Schnee fahren musste, er
hatte jahrzehntelange Erfahrung hinter sich, außerdem hatte er sich eigens für
diese Fahrt die Winterreifen aufmontieren lassen. Wenn er sich Zeit ließ und
nicht plötzlich scharf bremste, konnte eigentlich nichts passieren. Mit etwas
Glück würde er auf ein Streufahrzeug stoßen und eine Zeit lang hinter ihm
bleiben können. Er würde auf diesem Weg zwar weit länger zu seinem Ziel brauchen,
aber er hatte Zeit. In New York erwartete ihn nichts außer der Einladung zum
Weihnachtsessen, das noch beinahe zwei Wochen entfernt war. Paul, sein
gewesener Schwager, hatte sich ungewöhnlich menschlich und hilfsbereit gezeigt
und angedeutet, dass er eventuell eine Arbeit für ihn habe. Er brauchte einen
Mann zur Mittelakquisition. Paul kannte Mikes hervorragenden Ruf auf diesem
Gebiet und hatte ein Gespräch nach dem Weihnachtsessen vorgeschlagen. Mike
fragte sich, ob er den Mut haben würde, sich bei dieser Gelegenheit nach Meg zu
erkundigen. Bei den fünf, sechs Gesprächen, die er und Paul miteinander geführt
hatten, hatte keiner von ihnen je Meg erwähnt. Mike vermutete, Paul hatte diese
Wunde nicht aufreißen wollen, aber er fand, es sei inzwischen an der Zeit, über
seine geschiedene Frau zu sprechen. Er würde gern hören, dass sie ein neues
Leben gefunden hatte, selbst wenn ein
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