Weil sie sich liebten (German Edition)
Vater. Von Silas geführt, gehen
wir zusammen durch das Kirchenportal hinaus.
Am Fuß der Treppe gibt Mr. Quinney
mir einen Packen Papiere, den er in der Innentasche seines Mantels hatte. Er
wolle sie mir hier bei der Beerdigung geben, sagt er, weil er nicht glaubt,
dass wir uns noch einmal wiedersehen werden. Die Papiere sind doppelt gefaltet
und haben ausgefranste Ränder, als habe sie jemand aus einem Schulheft
herausgerissen. Mr. Quinney
ist kein Mensch, den man umarmt, deshalb lasse ich es.
Ich denke viel darüber nach, ob es möglich ist, einen Menschen
in Gedanken und Phantasiebildern am Leben zu erhalten. Ich habe nur meine
Erinnerungen. Ich erinnere mich der vielen Räume, die Silas und ich gemeinsam
durchschritten haben. Diesen Raum und diesen und diesen. Jetzt öffnen sie sich
mir nur, indem ich die Seiten dieses Tagebuchs wende. Auf diese Weise können
Silas und ich auf ewig Räume durchschreiten.
Colm
I n den Tagen, die auf Silas Quinneys
Erfrierungstod folgen, verlagerte sich der Schwerpunkt der Presseberichte von
der Schuld der einzelnen Jugendlichen auf die Verantwortung der Avery Academy,
die den Fall von Beginn an völlig falsch gehandhabt hatte. Die Internatsverwaltung
geriet zunehmend unter Druck, allen voran der Schulleiter Michael Bordwin, der
zwei der Jungen Geständnisse abnötigte, ohne ihnen die Möglichkeit rechtlicher
Beratung zu geben.
Die beiden jungen Männer, Robert Leicht und James Robles, wurden vor
dem zuständigen Gericht in Avery der sexuellen Nötigung angeklagt. Wären sie
für schuldig befunden worden, so hätten sie mit einer Gefängnisstrafe von bis
zu drei Jahren und einem Eintrag ins Strafregister rechnen müssen, der sie als
Sexualtäter ausgewiesen hätte. Die Eltern und die Anwälte rieten den jungen
Männern klugerweise, sich unzüchtigen Verhaltens für schuldig zu bekennen,
worauf Richter Wycliff sie zu einer Therapie und zweihundert Stunden sozialer
Arbeit verdonnerte und ihnen eine Bewährungszeit von zwei Jahren aufbrummte.
Sie erhielten keinen Eintrag im Strafregister.
Meiner Meinung nach hat Robles, so wenig ich ihn menschlich schätze,
gute Chancen, mit einer Klage gegen Avery wegen erzwungenen Geständnisses und
Missachtung seiner Bürgerrechte durchzukommen. Die Schule wäre gut beraten,
sich um einen Vergleich zu bemühen, bevor die Sache vor Gericht kommt. Interessant
ist Robles’ Vorbringen, das nicht Teil des Strafverfahrens war, jedoch
Bestandteil der Zivilsache ist, dass er überhaupt nicht hätte angeklagt werden
dürfen, da er das Mädchen nicht angerührt habe. Er leugnet nicht, am Ort des
Geschehens gewesen zu sein, aber er behauptet, er habe sich »um seine eigenen
Angelegenheiten« gekümmert. Das Band zeigt deutlich, dass etwas von Robles das Mädchen sehr wohl berührt hat. Je nachdem, wie man das Material
bewertet, entlastet oder belastet es James Robles. Ich persönlich bin ehrlich
gesagt der Ansicht, dass dieser besondere Teil seines Vorbringens Unsinn ist.
Ich muss allerdings gestehen, dass ich beim Vortrag von Robles’ Anwalt gern
dabei wäre.
Ellen
E s ist halb sechs Uhr morgens, und du
siehst dich in der Küche um. Sie ist erheblich kleiner als deine frühere Küche
und wirkt deshalb nicht so hell und ordentlich, aber vielleicht steht ja auch
wirklich mehr herum als früher. Du hast es dir abgewöhnt, jeden Abend das
Geschirr zu spülen, es ist dir einfach zu viel, nach einem langen Arbeitstag
und endloser Fahrerei abends noch in der Küche herumzuackern. Manchmal macht
Rob den Abwasch, er geht immer später zu Bett als du, und das ist dann am
nächsten Tag eine erfreuliche Überraschung. Meistens kannst du an den
Hinterlassenschaften deines Sohns auf der Arbeitsplatte und dem Küchentisch
erkennen, wie er den Abend zuvor verbracht hat. Da steht vielleicht noch eine
leere Coladose neben einem zusammengedrückten Popcornbehälter herum, oder die
Zeitung vom Vortag liegt beim Fernsehprogramm aufgeschlagen da. Vielleicht hat
er auch vergessen, das Licht im Wohnzimmer auszumachen, wo auf dem Sitzpolster
noch das Buch liegt, das er gerade liest. Rob arbeitet Teilzeit in der Bücherei
gegenüber und drei-, viermal die Woche kommt er mit einer Ladung Bücher nach
Hause, in die er sich in seiner üppigen Freizeit vertieft.
So selten, wie ihr euch seht, könntet ihr in verschiedenen Zeitzonen
leben, denkst du manchmal. Wenn du morgens aus dem Haus gehst, liegt er noch im
Bett und steht vor Mittag nicht auf. An den Tagen, an denen er
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