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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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verschnauften.
Sienna machte niemals Pause. Sie war in ihrem Element, und ich glaube, sie war
in ihrem ganzen Leben nie glücklicher gewesen. Im Ernst.
    Ich weiß nicht genau, wann wir die Grenze überschritten haben.
Vielleicht dort auf der Tanzfläche?
    Vielleicht als wir total betrunken, lachend und grölend über den Hof
zu J. Dots Zimmer torkelten?
Oder als wir uns ins Zimmer drängten und wieder anfingen, Bier und Bacardi zu
kippen? Oder als J. Dot die
Musik mit den dunklen Bässen auflegte?
    Der Beat hatte etwas ungeheuer Hypnotisches.
    Ich erinnere mich, dass Sienna mit einem Bier in der Hand begann,
sich im Rhythmus zu bewegen, als befände sie sich in einer anderen Welt. Sie
drehte ihren Körper auf eine träge, aber sehr laszive Art bald in die eine,
bald in die andere Richtung und bewegte dazu ihre Hüften im Takt mit der Musik,
und ganz allmählich hörte das grölende Gelächter auf, und unsere Aufmerksamkeit
galt nur noch ihr. Sie war die Musik, sie war der Beat. Es ging etwas
unglaublich Animalisches von ihr aus. Sie hätte allein in ihrem Zimmer tanzen
können. Sie sah keinen von uns an, und schien uns doch alle anzusehen. Sie
lächelte nicht. Wenn es eine Vorstellung war, dann war sie glänzend. Ich glaube
nicht, dass irgendjemand im Raum so etwas schon einmal gesehen hatte. Sie hatte
ein hellblaues, schulterfreies Oberteil an und hautenge Jeans. Die hochhackigen
Schuhe und das weiße Jäckchen hatte sie schon abgelegt. Und man wusste, was los
war. Man brauchte sie nur anzusehen, um es zu wissen.
    Es wurde noch stiller im Zimmer, und nach einer  Weile gab es nur noch die dunklen Bässe und
dieses Mädchen, dieses unglaublich schöne weibliche Geschöpf, das sich,
anscheinend ohne uns wahrzunehmen, träge und aufreizend zur Musik bewegte.
    Ich hörte, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde. Jamail und
Jay waren gegangen.
    Ich habe mich bestimmt hunderttausend Mal gefragt, warum ich nicht
mit ihnen gegangen bin. Aber ich weiß die Antwort schon. Nichts – aber auch gar
nichts – hätte mich dazu bewegen können, das Zimmer in diesem Moment zu
verlassen. Dieses Zimmer war der Ort, an dem es passierte. Alles, was man je
gelesen, was man je gehört oder geträumt hatte, war in diesem Zimmer. Jetzt zu
gehen, hätte bedeutet, dem allen auf immer den Rücken zu kehren. Es niemals
kennenzulernen. Man würde sein Leben wiederaufnehmen, als wäre nichts
geschehen, und nie wieder würde einem eine Erfahrung wie diese auch nur von
Ferne winken. Die Sterne standen richtig. Alles passte auf den Punkt.
    J. Dot nahm eine
Filmkamera zur Hand.
    Es war eine alte Kamera von seinen Eltern, die er ab und zu
benutzte, meistens um Filme von sich selbst in YouTube zu posten. In dem Jahr
fotografierten eigentlich alle ständig sich selbst. Ich weiß nicht, warum. Um
ihre Facebook-Seiten aufzupeppen? Um sich ihre fünfzehn Sekunden Ruhm zu
ergattern? Um jede Heldentat zu dokumentieren, ob erlaubt oder nicht? Ich weiß
nicht, ob J. Dot die Aufnahmen
ins Internet stellte, aber ich vermute, dass er derjenige war. Er hatte schon
gelernt, wie man das macht, und vielleicht wusste er auch, wie man Gesichter
verwischt. Ich kann mir vorstellen, dass er darin einen Kick sah. So war er.
Immer bis an die Grenze gehen. Das Äußerste wagen.
    Mir war bewusst, dass er die Kamera in der Hand hatte. Aber zu dem
Zeitpunkt schien mir das nur ein Teil dieser Wahnsinnserfahrung zu sein. Ich
dachte nicht über Konsequenzen nach. Offensichtlich nicht.
    Die Sequenz auf dem Band, die offenbar niemand je gesehen hat und
von der ich auch nicht sagen kann, was aus ihr geworden ist, zeigte nur Sienna.
Beim Tanzen. Wir sahen zu, wie sie die Träger ihres Oberteils im Nacken
aufknüpfte. Der blaue Stoff fiel herab. Ihr Busen war schön und fest und
wohlgerundet wie ihr Gesicht. In diesem Moment wusste man, dass es kein Zurück
gab; man konnte das Zimmer nicht mehr verlassen. Wie gebannt sahen wir alle ihr
bei ihrem Striptease zu. Nein, es war kein Striptease, wenn ich das behauptete,
würde ich sagen, dass sie uns reizen wollte. Nein, es war etwas Schönes und
Natürliches – wie man es vielleicht beobachten kann, wenn man unbemerkt durch
ein Fenster zusieht, wie eine Frau sich entkleidet und sich dabei ein wenig zur
Musik bewegt. Es war schön. Sehr schön. Dieses zierliche, geschmeidige Mädchen,
das etwas besaß, was keiner von uns je bemerkt hatte: Eleganz,
Körperbewusstsein und Schönheit. Wahre Schönheit. Nicht nur äußerlicher

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