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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Schein.
Ich habe nie jemanden gesehen, der schöner war als sie in diesem Moment.
    Wir waren alle wie verhext, gefesselt. Sie hatte uns völlig betört.
Ich glaube, keiner von uns wäre fähig gewesen, das Zimmer zu verlassen. Nicht
J. Dot, bei all seinem
Zynismus. Nicht Silas, auf den seine Freundin wartete. Und auch nicht Irwin,
dem J. Dot die Kamera in die
Hand gedrückt hatte.
    Ich weiß nicht, warum J. Dot
Irwin die Kamera gab. Vermutete er, dass Irwin, weil er schwarz war, nicht
mitmachen würde? Wollte er vielleicht nicht, dass
Irwin mitmachte? Oder hat er ihm die Kamera gegeben, weil er zufällig gerade
neben ihm stand, als er beschloss selbst aktiv zu werden? Ich weiß es nicht.
Aber ich weiß, dass keiner von uns Irwins Namen preisgegeben hat. Wir haben das
nicht getan, weil er schwarz war und wir instinktiv
wussten, dass die ganze Scheiße auf ihn abgewälzt werden würde, wenn einer von
uns ihn verraten hätte. Die Medien hätten die ganze Geschichte völlig
entstellt. »Schwarzer Schüler zwingt minderjährige Weiße nackt vor ihm zu
tanzen«. Oder so ähnlich. Wir dachten das vielleicht nicht so präzise, aber wir wussten es. Es ist das Einzige, was wir bei dieser ganzen
schmutzigen Episode richtig gemacht haben. Wir haben Irwin nicht ausgeliefert.
Erstaunlicherweise hat nicht einmal Sienna seinen Namen genannt, die doch
hinterher ansonsten gelogen hat wie gedruckt.
    Und es war richtig, dass Irwin sich nicht selbst gemeldet hat. Ich
habe ihm das nie übel genommen. Warum hätte er sich verraten sollen? Er hätte
sich nur das ganze Leben verpfuscht und sonst nichts.
    J. Dot zog sich
aus. Auch Silas zog sich aus. Später zog auch ich mich aus. Ich nehme an, Sie
haben das Band gesehen. Ich nehme an, ich muss Ihnen nicht beschreiben, wie es
weiterging.
    Hinterher lagen wir alle zwei, drei Minuten lang nur auf dem Boden.
Dann brach brüllend die Realität über uns herein. Ich weiß noch, dass J. Dot zu seinem Bett zurückging, sich
hinlegte und die Decke hochzog. Irwin legte die Kamera weg, öffnete die Tür und
ging leise hinaus. Sienna zog in aller Eile ihre Sachen wieder an, stand auf
und schlüpfte in ihre Schuhe. Ich erinnere mich, dass sie sich, als sie aus dem
Zimmer ging, herumdrehte und uns eine Kusshand zuwarf. Ich fand es grässlich,
es passte überhaupt nicht. Das war keine Geschichte, aus der man einfach mit
einer Kusshand hinausmarschieren konnte. Hinausmarschieren, die Tür zumachen
und nie wieder darüber reden – okay, das kann ich verstehen. Aber eine Kusshand
werfen? Als wollten wir uns alle am nächsten Samstag wiedertreffen?
    Ich sah, dass Silas sich in den Papierkorb übergab. Es waren
entsetzliche Würgegeräusche. Ich zog mich schnell an, dann ging ich zu ihm und
legte ihm die Hand auf den Rücken. Er schlug nach mir und sagte: »Verpiss
dich.«
    »Silas«, sagte ich.
    Da drehte er sich um, mit zusammengekniffenen Augen, den blanken
Hass im Blick. Man hätte Angst bekommen können vor diesem Blick. Dann musst er
sich wieder übergeben.
    J. Dot war
bewusstlos. Später hatte ich den Verdacht, dass er Theater gespielt hat, weil
er sich eigentlich zur Sperrstunde bei seinem Wohnheimbetreuer hätte melden
müssen.
    Ich ging.
    Es war das Dümmste und das Schlimmste, was ich je im Leben getan
habe. Schlimmer noch als das, was ich nur Minuten zuvor getan hatte. Ich ließ
J. Dot, der allem Anschein
nach bewusstlos war und bei dem ich hätte Angst haben müssen, dass er nicht
wieder aufwacht, einfach auf seinem Bett liegend zurück, ohne mich um irgendwas
zu kümmern. Und um Silas, meinen Freund, dem so übel war, dass er gar nicht
aufhören konnte, sich zu übergeben, kümmerte ich mich auch nicht. Es hätte
leicht sein können, dass er das Bewusstsein verlor und an seinem Erbrochenen erstickte.
Und idiotischerweise ließ ich die Kamera auf der Kommode liegen, auf der Irwin
sie abgelegt hatte.
    Ich war schon in meinem Bett im Wohnheim, als mir einfiel, dass die
Kamera noch auf der Kommode lag. Ich versuchte, J. Dot auf seinem Handy zu erreichen. Er meldete sich
nicht. Mir war inzwischen selbst so schlecht, dass ich glaubte, ich würde es
nicht noch einmal über den Hof schaffen. Ich sagte mir, dass ich ihn am Morgen
anrufen, oder dass er aufwachen, die Kamera entdecken und das Band vernichten
würde. Das ganze Zimmer drehte sich um mich, mir war speiübel, und plötzlich
kam mir alles hoch. Ich schaffte es nicht mehr bis ins Bad und übergab mich
über den Bettrand. Mein Zimmergenosse wachte

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