Weil sie sich liebten (German Edition)
den anderen
überhaupt nicht bemerkt hat. Im Korridor nach einer Unterrichtsstunde. An der
Tür zur Kantine. In der Aula. Und wenn ich ihn irgendwo in der Ferne mit seinen
Freunden sehe, spüre ich irgendwie, dass auch er mich bemerkt hat, auch wenn er
es mit keinem Zeichen verrät. Sein Körper verrät es, seine Haltung. Ein
plötzliches Aufmerken.
Silas hat hellbraune Augen und widerspenstige Haare. Er trägt
meistens eine Baseballkappe, außer natürlich zum Unterricht. Wenn er die Mütze
abnimmt, ist sein Haar nicht platt gedrückt wie bei den meisten Jungs; es steht
ab, als hätte es seinen eigenen Willen. Genau so sehe ich Silas, als jemanden
mit einem eigenen Willen.
Er schaut mich an und schaut gleich wieder weg. Die Frage ist,
was wir mit der halben Stunde anfangen wollen, die wir hier in seinem Zimmer
für uns haben.
Ich will und will doch nicht.
Er will und will doch nicht.
Er fragt – zu meiner Überraschung –, ob ich Boggle spiele.
Ich muss lachen. Wir haben uns nicht einmal geküsst.
Ich bin in einem Probenraum in der Schule. Die Akustik ist
grauenvoll, mir ist schleierhaft, wie man dieses Zimmer zum Probenraum machen
konnte. Es hat hohe Wände und hohe Fenster und ist rundherum holzgetäfelt, als
ob es früher mal eine Bibliothek gewesen wäre. Wenn ich übe, kann jeder draußen
im Korridor genau hören, was ich spiele, aber das ist mir egal. Wenn ich übe,
bin ich innerlich woanders, und die Zeit hat einen anderen Rhythmus als in der
Mathestunde. Wenn ich übe, denke ich nur an die Musik.
Ich packe meine Geige ein und mache die Tür auf. Draußen im Gang
steht Silas, an die Wand gegenüber gelehnt, und wartet. Er tut nicht so, als
sähe er sich die Schülergemälde an, die hier ausgestellt sind, und er schaut
nicht weg.
»Hey«, sage ich.
»Hey«, sagt er.
Er kommt mir entgegen und nimmt mir den Geigenkasten ab. Ich schiebe
mir den Riemen meiner Büchertasche über die Schulter. Es ist nicht weit bis zur
Kantine, und ich habe keine Jacke dabei. Ich greife mit den Händen in mein Haar
und lasse es auf den Rücken herabfallen. Wir wissen beide, dass es eine Verlegenheitsgeste
ist. Silas sieht viel zu kräftig aus, für so einen kleinen Geigenkasten. Er hat
einen komischen Gang, so ein bisschen breitbeinig. Am Kinn hat er Pickel unter
den Bartstoppeln. Er riecht noch nach Neutrogena-Shampoo.
In der Kantine stellt er sich mit mir zusammen an. Wir setzen uns
allein an einen kleinen Tisch, und ich brauche gar nicht hinzusehen, um zu
wissen, dass seine Freunde uns beobachten und über uns reden. Eigentlich ist
mir das ziemlich egal, aber ich kriege trotzdem keinen Bissen runter. Als wir
in der Schlange standen, habe ich mir Hacksteak und Kartoffelpüree geben
lassen, obwohl ich sonst nie etwas von den Hauptgerichten nehme. Ich mag gar
kein Fleisch. Als ich aufstehe, um mir ein Glas Milch zu holen, zittern mir die
Hände. Ich atme tief durch und mache die Augen zu.
Diesmal ist es ganz anders, und ich bin aufgeregt.
Wir lehnen an einer Backsteinmauer draußen vor der Turnhalle.
Ich habe vor der Tür auf Silas gewartet. Er wusste nicht, dass ich da sein
würde, und lächelte, als er mich sah. Seine Haare sind nass von der Dusche. Wir
küssen uns zum ersten Mal.
Wir schieben uns an der Mauer entlang, bis wir zu einer Ecke
kommen, hinter der wir außer Sicht sind. Es ist, als hätte ich Ewigkeiten auf
diesen Moment gewartet. Er legt seine Hände um mein Gesicht, ich rieche die
Seife. Sein Kuss schmeckt nach Popcorn. Unsere Füße kommen sich in die Quere,
und ich weiß nicht gleich, soll ich nun in diese Richtung oder jene nachgeben.
Silas ist größer als ich, aber nicht viel. Er nimmt mich in die Arme, seine
Kraft überrascht mich. Er tritt zurück und lacht. Wir sind beide nervös.
Silas lacht und küsst mich noch einmal, fest diesmal, weil wir
gleich gehen müssen, und er möchte, dass ich diesen Kuss nicht vergesse.
Wir lassen uns los und gehen zum Parkplatz. Ich bleibe mit ihm
beim Auto stehen, während er mit den Schlüsseln herumhantiert. Das Auto ist alt
und verrostet und völlig verbeult. Die Polster riechen nach Hund. Wir machen
keine Pläne, weil wir wissen, dass wir auch noch morgen haben und übermorgen.
»Bis dann«, sagt er beim Einsteigen.
»Bis dann«, sage ich.
Anstatt loszufahren, steigt Silas wieder aus. Er packt mich
einfach und küsst mich noch einmal, mitten auf dem Parkplatz vor der Turnhalle.
Um uns herum steigen Mitschüler in ihre Autos, Eltern warten auf ihre
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