Weil sie sich liebten (German Edition)
gingen, überkam ihn das beglückende Gefühl, dass die
Welt im Lot war. Manchmal klappt es eben doch, dachte er. Es gab junge
Menschen, die fleißig lernten und Charakter hatten, die nicht gewohnheitsmäßig
tranken oder kifften, die stattdessen auf ihrem Gebiet Außergewöhnliches
versprachen. Avery hatte ihre Kräfte gebündelt und sie auf den rechten Weg
geführt. Solche Erfolge ließen einen, wenigstens vorübergehend, die Zukunft der
Menschheit im freundlichsten Licht sehen.
Noelle
W ir sitzen auf Silas’ Bett. Im Haus ist
es still, nichts rührt sich. Sein Zimmer ist klein und eng, unters Dach
gequetscht. Es hat ein Fenster, das zum Wald hinausgeht. Die Bäume bekommen
gerade die ersten Knospen, dicke roten Tupfen im saftigen Grün. Ein Bild, das
ein Kind gemalt hat. Wie sitzen nebeneinander, unsere Körper berühren sich
beinahe, aber nur beinahe. Seine Eltern sind oben in Kanada und schauen sich
ein Schaf an. Ich versuche mir vorzustellen, was das heißt, bis nach Kanada zu
fahren, nur um sich ein Schaf anzuschauen. Silas hat zwar nichts dergleichen
gesagt, aber ich kann mir denken, dass seine Eltern nicht erfreut wären, wenn
sie mich mitten an einem Schultag hier im Haus vorfänden. Eigentlich sollten
wir in der Schule sein.
Silas will mir seine Sachen zeigen. Er zeigt mir seine
Kollektion von Baseballkarten und seine CD -Sammlung.
Er zeigt mir seine Eisenbahn, die unter dem Bett steht, und erklärt mir, dass
das die N-Serie ist. Ich habe keine Ahnung, was N-Serie heißt, aber es gefällt
mir, dass er gern Eisenbahn gespielt hat. Im Zimmer sind zwei Fotos von ihm,
eines zeigt ihn beim Schafscheren, das andere, wie er bei der Geburt eines
Lämmchens hilft. Ich sehe mir das zweite Bild lange an, ich habe noch nie eine
Geburt gesehen. Er erzählt mir, wie es abläuft. Er und sein Vater müssen einen
ganzen Monat lang immer einen Piepser bei sich haben, für den Fall dass bei
einem trächtigen Schaf die Wehen anfangen. Einer allein reicht als
Geburtshelfer nicht aus. Seine Mutter, die in der Lammsaison kaum aus dem Haus
geht, schafft es nicht allein. Einer muss das Tier festhalten, während der
andere die Hände in den Leib schiebt. Das Mutterschaf könnte ohne Hilfe
gebären, erklärt mir Silas, aber die Tiere sind zu wertvoll, da dürfen keine
Fehler oder Unfälle passieren. Damit verdienen seine Eltern ihr Geld – mit der
Aufzucht und dem Verkauf von Lämmern und Schafen erster Qualität. Silas ist
schon mal in der Mathestunde angepiepst
worden, ein andermal beim Wiffle Ball mit seinen Freunden und einmal sogar, als
wir gerade eine Schularbeit geschrieben haben. Die Lehrer haben Verständnis. Die
finden es cool, sagt er, dass es tatsächlich noch etwas gibt, was wichtiger ist
als die Schule. Silas findet es jedes Mal schön, so einem Lämmchen auf die Welt
zu helfen, sagt er, aber den Hof will er später nicht übernehmen. Er und sein
Vater haben nie direkt darüber gesprochen, aber Silas weiß, dass es der Wunsch
seines Vaters ist. Silas und seine Mutter haben andere Pläne. Silas will sich
vielleicht an der Universität Vermont und am Middlebury-College bewerben.
Middlebury sei in Reichweite, sagt er.
Ich habe ihm erzählt, dass ich an die Juilliard will, aber es gibt
noch ein paar andere Schulen, bei denen ich wahrscheinlich eher angenommen
werde.
Silas zeigt mir eine Mappe mit Tierzeichnungen, die er in den
letzten drei Jahren im Kunstunterricht gemacht hat. Ich finde sie phantastisch.
Die Bilder zeigen Schafe, Hunde, Igel, Rehe und Pferde – ich kann sie beinahe
hören oder riechen. Ich sage zu Silas, er soll häufiger malen, aber er zuckt
mit den Schultern.
Ich kann seine Nervosität am ganzen Körper spüren. Das Bett
federt jedes Mal, wenn er aufsteht, um mir irgendetwas zu zeigen. Als draußen
einer der Hunde anschlägt, springt Silas auf und läuft über den Flur, um zum
Fenster hinauszuschauen. Daran, wie sein Rücken sich entspannt, erkenne ich,
dass er erleichtert ist. Nur der Briefträger, sagt er, als er wieder
hereinkommt. Ich kann die Autos hören, die den Berg hinunter nach Avery
hineinfahren, das unablässige Rauschen des
Verkehrs. Selbst auf dem Land sind überall Autos.
»Also«, sagt Silas.
Silas ist nicht groß für einen Basketballer, aber er hat breite
Schultern und er ist kräftig. Das merke ich immer, wenn er spielt. Wie er den
Ball dribbelt, das sieht aus, als trommelte er auf ihn ein. Seit zwei Wochen
nehmen wir einander plötzlich an Orten wahr, wo früher einer
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