Weil sie sich liebten (German Edition)
Sehnsüchte entwickelte und
sich von Scharen potenzieller Babysitter umgeben wusste, merkte immer
deutlicher, dass selbst die entzückendsten Kinder sich rasant schnell in
nervige Teenager verwandelten. Er kannte die Heranwachsenden wahrscheinlich so
gut wie jeder, der an einer Schule oder einer vergleichbaren Institution tätig
war; das heißt, er sah sie nicht mit den Augen der Mutter oder des Vaters, die sie
bedingungslos liebten, sondern mit dem Blick eines kritischen, wenn auch
zuversichtlichen Beobachters. Er war daher auch eher geneigt, die weniger
erfreulichen Seiten der Jugendlichen zu bemerken: Die grotesken Risiken, die
sie eingingen; das Experimentieren mit allen möglichen Formen des Verhaltens
einschließlich Kriechertum und bodenloser Grausamkeit; einen pathologischen Hang,
die Dinge zu verschleppen, der häufig ein übermäßiges Schlafbedürfnis zur Folge
hatte; hohe Empfindlichkeit infolge hormoneller Umwälzungen; und eine Neigung
zu hygienischen Extremen (beeindruckend lange, ungepflegte Zehennägel bei den
Jungen; mindestens dreimaliger Kleidungswechsel pro Tag bei den Mädchen). Alles
in allem, sagte sich Mike, hatte er wahrscheinlich ein etwas zynisches Bild von
Teenagern, das ihn nicht lockte, eigene Kinder in die Welt zu setzen. Es war
durchaus möglich, dachte er, dass Meg inzwischen ein Kind hatte; bei ihrer
Trennung war sie noch dreiundvierzig gewesen. Sie hatten seit dem Skandal außer
über ihre Anwälte kaum noch Kontakt gehabt. Ohne Kinder hatte Weihnachten, das
zu Anfang ihrer Ehe von so viel Romantik umrankt war, für beide seinen Glanz
verloren, man freute sich eigentlich nur noch wegen der zweiwöchigen Erholung
von sechshundert Teenagern auf die Feiertage.
Mike überlegte es sich anders und beschloss, doch gleich ins
Restaurant des Gasthofs zu gehen, wo man ihn in eine kleine Nische mit zwei
behaglichen Ohrensesseln führte. Ein feiner Duft nach einem Blütenpotpourri
hing im Raum, und die Lautsprecher an der Decke versorgten die Gäste mit
blechern klingender klassischer Musik, die, soweit Mike feststellen konnte, mit
Weihnachten nichts zu tun hatte. Durch die Ritzen der hohen Fenster hinter ihm,
die von der Decke bis zum Boden reichten, ja, bis auf den Teppich, sodass man
sich bücken und sie anheben musste, wenn man sie öffnen wollte, drang von allen
Seite kalte Luft. Er wusste, dass die Speisekarte hier im Restaurant einfach,
aber zuverlässig war: Fettuccine mit schwarzem Pfeffer, Angus-Cheeseburger,
Truthahnsandwich, Kürbissuppe. Es gab bessere Restaurants am Ort, und die
meisten hatte er ausprobiert, aber ihm gefiel die ungezwungene Atmosphäre im
Restaurant, wo alle Bilder Kühe zeigten, vielleicht um den Gast an den
Angus-Cheeseburger zu erinnern, den Mike trotz seines früheren Vorsatzes, kein
rotes Fleisch mehr zu essen, zu bestellen gedachte. Den Vorsatz hatte er völlig
ins Blaue hinein gefasst, denn er hatte keinen Arzt mehr aufgesucht, seit er
vor über zwei Jahren das letzte Mal bei
Dr. Vaughn gewesen war, einem Arzt in Avery mit einem dicken Muttermal auf der
Lippe, bei dessen Anblick sich Mike jedes Mal fragte, warum der Mann, der doch
gewiss beste Beziehungen zur Medizin hatte, es nicht entfernen ließ. Müsste er
dafür vielleicht ein großes Stück Lippe opfern? Mike presste die Lippen
zusammen beim bloßen Gedanken an den Schmerz.
Als er aufblickte, sah er auf der anderen Seite des Raums, ebenfalls
in einer Nische, eine Frau allein sitzen. Sie schrieb Adressen auf weiße
Kuverts, wobei sie ab und zu einen Blick in ein kleines Spiralheft warf. Sie
schrieb, betrachtete prüfend das Kuvert, nahm ein neues und schrieb weiter.
Weihnachtskarten? Mike versuchte, nicht neugierig zu sein. Sie trug einen schwarzen
Pullover, dessen Ärmel über die Hände reichten, enge Jeans und Wanderstiefel.
Sie war blond – aus einer teuren Flasche, wenn es aus der Flasche war – und
unbestimmbaren Alters.Nicht jung, nicht alt und auch nicht mittel, das hätte, fand er, einer kurzhaarigen Frau bedurft, die
um die Mitte etwas auseinandergegangen war und keine Pullis mit handlangen
Ärmeln trug, keine enge Jeans, die vermutlich akkurat auf den Wanderstiefeln
aufsaß. Die Frau legte das Spiralheft zur Seite, als die Bedienung ihr Essen
brachte. Sie schaute auf und als sie bemerkte, dass Mike sie ansah, lächelte
sie nicht. Er wandte den Blick ab.
Gleich darauf hörte er einen gedämpften Ausruf und sah wieder hinüber.
Die blonde Frau hatte gerade in den
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