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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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man das manchmal tut, die Adressen auf den
Kuverts zu lesen, um sich zu vergewissern, dass sie richtig waren, vielleicht
aber auch, um zu prüfen, ob die Briefe alle ordnungsgemäß frankiert waren. Da
sie mindestens ein Dutzend Kuverts durchsehen musste, blieben Mike ein paar
Sekunden, um sie einzuholen. Er bemühte sich, die Begegnung nach Zufall
aussehen zu lassen.
    »Oh, hallo«, sagte er, als wäre er eben erst auf sie aufmerksam
geworden.
    Sie drehte sich herum, und Mike begriff augenblicklich, warum er ihr
nachgestellt hatte. Die Frau – ihr Gesicht, vielleicht auch ihr Lächeln – hatte
eine frappierende Ähnlichkeit mit Anna. Er begriff, warum er diese Fremde hatte
einholen wollen, und warum er jetzt so erschrocken war.
    »Entschuldigen Sie«, stotterte er.
    Die Frau sah ihn verwundert und ein wenig misstrauisch an.
    »Ich dachte … ich habe Sie für jemand anderen gehalten«, erklärte
er. »Entschuldigen Sie vielmals.«
    Er wandte sich abrupt ab und ging in Richtung Gasthof davon. Seine
Augen tränten hartnäckig, und er konnte kaum etwas sehen. Er versuchte, die
Tränen wegzuzwinkern. Natürlich hatte er die Frau nicht für eine andere
gehalten; das war eine Notlüge gewesen. Niemals hätte Mike die Frau im
schwarzen Daunenmantel mit der Frau verwechselt, die jetzt im Dunkeln in einem
kleinen Haus am Fuß eines langen Hügelhangs saß.
    Mike hatte geglaubt, wenn er über den Skandal schriebe, könnte er
ihn gewissermaßen hinter sich lassen. Er  hatte geglaubt, wenn er sich seinen Schmerz –
seine  Schuld – von der Seele schriebe,
würde er tatsächlich vergehen. Aber beim Anblick dieses Frauengesichts mit dem
Schimmer von Furcht und Neugier, hatte er erkannt, dass er kein Recht hatte, die
Schuld und den Schmerz fortzuwünschen, nicht einmal das Recht, sich der vielen
Momente reinen Glücks zu erinnern, die er mit Anna erlebt hatte.
    Er würde kein einziges Wort mehr schreiben. Nicht eines. Nein,
sobald er wieder in seinem Zimmer war, diesem gläsernen Luftschloss, das allen
Zauber eingebüßt hatte und mehr einer gläsernen Zelle glich, in die man einen
Gefangenen steckte, würde er alles zerreißen, was er geschrieben hatte.
    In der schneidenden Kälte ging Mike schneller.

Ellen
    D u sitzt auf dem Bett, ein schmales
Kissen im Rücken, und schaust dir CNN an, weil es
unerträglich wäre, wenn der Fernseher nicht liefe, der Lärm nicht wäre. Eine
Schachtel mit einer halben Pizza steht auf der Kommode. Du hast mit
unerwartetem Heißhunger zwei Dreiecke von der Pizza gegessen. Dein Sohn behauptete,
keinen Appetit zu haben. Als du sagtest, er müsse etwas essen, setzte er sich
auf, klappte eines der öligen Dreiecke zusammen und schob es sich in den Mund.
Du konntest seine Augen nicht sehen. Du wolltest sie auch nicht sehen.
    Als der Polizist an die Tür klopfte, tat er es so merkwürdig
zurückhaltend, dass du im ersten Moment annahmst, es wäre die Frau des
Motelbesitzers mit einem extra Handtuch und einem eingepackten Stück Seife. Du
hast aufgemacht und beim Anblick der Uniform sofort den Fuß vorgeschoben, wie
um ihm den Weg zu versperren. Du hast die Arme gehoben und die Hände um die
beiden Türpfosten gelegt, bevor du den Mann in scharfem Ton gefragt hast: »Was
wollen Sie?«
    Der Beamte hat dir seinen Namen genannt und gefragt, ob Robert
Leicht hier sei. Du hast ihn hingehalten, seinen Ausweis verlangt und die ganze
Zeit gedacht, dein Sohn würde vielleicht fliehen. Aber welchen Weg hätte er
genommen? Zum Badfenster hinaus?
    »Madam«, sagte der Polizist nicht unfreundlich.
    »Ist schon okay«, sagte dein Sohn hinter dir.
    Aber immer noch wolltest du nicht weichen, und schließlich musste
Rob dich von der Tür weglotsen.
    Als sie deinem Sohn Handschellen umlegten, hast du dir den Mund
zugehalten, um den Schrei zu ersticken, von dem du wusstest, dass er in dir
aufsteigen würde. Du hast deinen Sohn an der Schulter festgehalten, bis sie
dich gezwungen haben, ihn loszulassen. Dann hast du draußen in der Kälte
gestanden und zugesehen, wie der Polizist deinem Sohn zuerst den Kopf
hinunterdrückte und ihn dann hinten in den Streifenwagen schob. Du hast
geweint. Dein Sohn hat dich angesehen, und du hast zu lächeln versucht, weil du
ihm angemerkt hast, wie groß seine Angst war. Du hast gesagt: »Ich bin direkt
hinter dir.«
    Deine Hände haben so stark gezittert, dass du kaum den Wagen starten
konntest. Du wusstest, wo die Polizeidienststelle ist, du warst ja bei deinen
Besuchen in Avery

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