Weil sie sich liebten (German Edition)
unzählige Male dort vorbeigefahren. Du kamst gerade
rechtzeitig an, um zu sehen, wie ein Mann deinem Sohn die Fingerabdrücke
abnahm, und hast dich sofort wegen einer Kaution erkundigt. »Mit wem muss ich
sprechen?«, hast du gefragt. »Wie viel?«
Sie brachten deinen Sohn fort, in einen Raum, in dem du ihn nicht
sehen konntest, und du hast gedacht: Das ist kein Traum. Das
passiert wirklich.
Als Rob endlich in deine Obhut entlassen wurde, ließ er sich nicht
von dir umarmen.
Seine Finger waren schwarz von der Tinte.
Um Mitternacht klopft es wieder, eine Faust trommelt an die Tür.
Du weißt, wer es ist, noch bevor dein Mann deinen Namen ruft. Die Stimme klingt
wütend und fordernd. Einen Moment erwägst du, vor die Tür hinauszugehen, bevor
er hereinkommen kann. Du hast plötzlich große Angst.
Arthur ist direkt von der Arbeit gekommen. Er weiß von der
Festnahme. Du hast ihn von der Polizeidienststelle aus angerufen, in der freien
Hand einen Becher mit kaltem Kaffee. Er hat seine Krawatte gelockert, sein
Jackett geöffnet. Er trägt nie einen Mantel, nicht einmal jetzt, im Januar. Du
sagst immer wieder zu ihm: Und wenn du mal eine Panne hast? Aber das nützt gar nichts. Der Mantel beenge ihn beim Fahren, behauptet er.
»Arthur.«
Sein dunkler Blick sucht euren Sohn, das Kind, das ihr gezeugt habt.
Dann macht er sich mit einem schnellen Rundumblick ein Bild von diesem Zimmer.
»Steh auf«, sagt er zu Rob.
Euer Sohn wälzt sich langsam auf die Seite, setzt sich auf und
stellt die Füße auf den Boden. Es dauert eine ganze Weile, bis er steht.
Arthur stellt ihm eine Frage, die auch du ihm schon gestellt hast:
»Ist es wahr?«
Rob schließt die Augen. Er schiebt das Kinn vor, nur einen
Millimeter, aber es reicht, um zu zeigen, dass er sich wappnet.
Dein Mann tritt näher an euren Sohn heran. Er hat die Hände in die
Hüften gestemmt, auch sein Kinn ist aggressiv vorgeschoben.
»Ist es wahr?«, fragt er noch einmal.
Du hebst instinktiv die Hände, um zu verhindern, was auch immer
gleich geschehen wird.
Euer Sohn nickt mit geschlossenen Augen.
Der Schlag erfolgt so schnell, dass du der Bewegung kaum folgen
konntest. Rob reißt es den Kopf nach hinten, er fällt aufs Bett. Du packst
deinen Mann am Arm und schreist: Aufhören!
Mit Mühe setzt der Junge sich wieder auf. Er weint nicht, er hebt
die Hand nicht zum Gesicht, und du weißt nicht genau, warum, aber dafür bist du
unerhört stolz auf ihn. Schon zeigt sich an seinem Kinn ein roter Handabdruck.
Du versuchst, dich zu erinnern, ob Arthur euren Sohn jemals geschlagen hat. Es
fällt dir nicht ein.
»Was zum Teufel ist in dich gefahren, so etwas zu tun?«, fragt dein
Mann scharf.
Auf die Frage gibt es keine Antwort. Oder vielleicht gibt es eine, aber Rob rückt nicht mit ihr
heraus. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht euch gegenüber, dir und deinem Mann.
»Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was du angerichtet hast?
Was du da weggeworfen hast?«, brüllt Arthur.
Euer Sohn weiß genau, was er weggeworfen hat. Die Fragen dienen nur
der Erleichterung des Vaters.
»Du weißt doch, dass du auf der Brown schon angenommen warst«,
schreit Arthur wütend, die Hände in die Hüften gestemmt.
Das missbrauchte junge Mädchen wird mit keinem Wort erwähnt. Du
fragst dich, ob dein Mann überhaupt begreift, worum es geht.
»Also, was hast du mir zu sagen?«, fragt dein Mann, und selbst er
muss wissen, dass er keine zufriedenstellende Antwort erhalten wird, wenn
überhaupt eine.
Euer Sohn reagiert nicht.
Dein Mann dreht sich mit einer heftigen Bewegung nach dir um und
sieht dich wütend an, als wärst du für alles verantwortlich. Und natürlich bist
du das auch. Du bist verantwortlich.
»Ich halt’s nicht aus in einem Zimmer mit ihm«, erklärt dir dein
Mann, als wäre er von euch beiden der weit schwerer Verletzte. Stimmt das?
Dich erstaunt weder, wie viel Kraft er hat, noch wie windig die
Zimmertür ist, die noch in ihrem Rahmen zu zittern scheint, als Arthur längst
weg ist. Du verspürst einen Impuls, ihm nachzulaufen, ihn zu rufen und zu
sagen, dass ihr reden müsst. Aber im Moment kannst du das nicht.
Silas
I ch bin jetzt ganz oben auf dem Weg,
höher, als wir beide damals gekommen sind. Einmal, als ich noch klein war, sind
mein Vater und ich bis zum Gipfel gewandert, wir haben den ganzen Tag
gebraucht, aber als wir oben waren und auf einen Felsbrocken gestiegen sind,
konnten wir die vielen Berge rundherum sehen, und ich weiß noch, wie
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