Weil sie sich liebten (German Edition)
auch
eine Stunde Abstand nehmen vom Schreiben und etwas anderes tun. Etwas zu
trinken, wäre vielleicht das Richtige. Er musste daran denken, sein Sakko
anzuziehen. Im Lokal war es trotz des offenen Feuers oder vielleicht gerade
wegen des Feuers und der Zugluft, die es begleitete, immer kühl.
Er fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss hinunter und drängte sich
durch ein Gewimmel von Tagungsteilnehmern, die sich an diesem Sonntagabend im
Gasthof anmeldeten, um am nächsten Morgen im Hildene-Saal (großer
Konferenztisch aus Mahagoni, offener Kamin, Stühle mit Armlehnen, frische
Erdbeer- und Pfirsichmuffins, die, wie Mike aus eigener Erfahrung wusste,
köstlich schmeckten) ihre Arbeitswoche zu beginnen. Weil er gerade nichts
Besseres zu tun hatte, versuchte er, die durchschnittliche Gewichtszunahme bei
einem fünftägigen Aufenthalt im Hotel zu errechnen, und kam auf anderthalb bis
zweieinhalb Kilo, auch wenn natürlich beim Shoppen ebenso Kalorien verbrannt
wurden wie beim Training im kleinen Fitnessraum des Gasthofs, den Mike
möglichst mied, da er sich nicht gern vor Fremden halb nackt zeigte (ein Relikt
aus der Zeit, als er noch Schulleiter gewesen und es eine Form akademischen
Selbstmords war, in Avery im Fitnessraum zu erscheinen). Mike machte lieber
stramme Spaziergänge, um sein Gewicht bei achtzig Kilo zu halten.
Draußen herrschten, wie er auf dem Weg durch den Gang gehört hatte,
minus zehn Grad, aber durch den Wind (Mike spürte beinahe die eisigen Böen im
Flur) fühlte es sich an wie minus zwanzig. Er beschloss, sein erstes Glas in
der Lounge zu trinken, am offenen Kamin und in der Nähe des Weihnachtsbaums,
der schon vor Mikes Ankunft im Gasthof aufgestellt worden war, aber als er
eintrat, sah er, dass am offenen Kamin ein Mann im Rollstuhl saß. Mike nickte
grüßend und ging weiter zu einer Ecke mit einer gemütlichen Sitzgruppe,
bedauerte diese Entscheidung aber sogleich. Der Mann im Rollstuhl war sicher
einsam und würde sich vielleicht gern mit jemandem unterhalten. Aber wenn er
jetzt umkehrte, dachte er, sich ans Feuer setzte und ein Gespräch begann, würde
der Mann augenblicklich merken, dass er es nur aus Mitleid oder bestenfalls aus
Freundlichkeit tat, und darauf konnte der einsame Mann (der ja vielleicht gar
nicht einsam war, sondern lediglich seiner Ehefrau eine halbe Stunde entkommen
wollte) wahrscheinlich pfeifen.
Die Lounge hatte viele Nischen und Ecken wie die, in der Mike es
sich bequem gemacht hatte. Bis vor Kurzem waren sie meist leer gewesen, sodass
Mike den Gesellschaftsraum als eine Art zweites Wohnzimmer und Bibliothek hatte
nutzen können. Beim Anblick der vielen Bücher auf den Borden hatte er mit sich
selbst gewettet, dass nicht eines darunter sein werde, das er würde lesen
wollen – eine Wette, die er glatt gewann – oder von dem ein halbwegs gebildeter
Mensch wie er auch nur gehört hätte (die Wette verlor er, als er auf ein
Exemplar von Der letzte Mohikaner stieß). In den
letzten Tagen jedoch, mit dem Näherrücken der Weihnachtsfeiertage, belebte sich
die Lounge immer mehr. Vor allem begegnete man dort Ehemännern oder Kindern
(oder Ehemännern mit Kindern), die mit dem Auftrag, sich anderswo zu vergnügen,
ihrer Zimmer verwiesen worden waren, damit Ehefrauen und Mütter sich in Ruhe
zurechtmachen konnten. Mike war aufgefallen, dass junge Paare, die den Gasthof
mit allen seinen Angeboten kennenlernen wollten, gezielt jeden einzelnen Raum
aufsuchten und sich längere Zeit darin aufhielten. Mike wusste nicht, ob er
Weihnachten bei den Menschenmengen, die zu erwarten waren, noch hier sein
würde. Vielleicht war es besser, am
Empfang nachzufragen, es war ja möglich, dass der Gasthof für den Zeitraum, den
er aus jahrelanger Gewohnheit auch jetzt noch ›die Weihnachtsferien‹ nannte,
ausgebucht war. Da ihn zu Weihnachten nichts erwartete als seine winzige
Mietwohnung in New York und ein Abendessen bei seinem ehemaligen Schwager, da
er zudem nicht wusste, ob er mit seinem Schreibprojekt bis dahin fertig würde
(sein derzeitiges Produktionstempo ließ doch sehr zu wünschen übrig), beschloss
er mit einem leichten Anflug von Beunruhigung, an der Rezeption zu klären, wie
lange er in seinem derzeitigen Zimmer bleiben könne.
Bis zu jenem Abend im September vor zwei Jahren, als Meg ihn in der
Küche mit der Mitteilung überraschte, dass
sie ein Kind wolle, hatte es immer den Anschein gehabt, als wollte sie auf
keinen Fall eigene Kinder. Und Mike, der bisweilen
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