Weil sie sich liebten (German Edition)
könnte, in die Kantine geschafft hat. Ohne
jedes Gefühl für den Rhythmus hopst Silas hemmungslos mit schwingenden Armen
und in gebückten Drehungen auf der Tanzfläche herum. Er kann überhaupt nicht
tanzen, und wenn ich nicht so verblüfft wäre, würde ich mich halb zu Tode
genieren für ihn. Er ist wie durchgedreht, aber niemand lacht.
Ich schiebe mich näher heran. Seine Haut glänzt schweißnass. Er
dreht sich im Kreis, und dabei gleitet sein Blick ohne eine Spur des Erkennens
über mich hinweg. Er trägt ein grünes Flanellhemd über einem T-Shirt und eine
Jeans, deren Hosenbeine am Saum feucht sind. Seine Timberland-Stiefel sind
schmutzig. Es sieht aus, als hätte sich die Menge geteilt, um Silas zuzusehen,
aber in Wirklichkeit ist es nicht so. Allein mein Augenmerk ist auf ihn
gerichtet.
Er und die Blondine in den High Heels berühren einander nicht, sehen
einander nicht einmal an, soweit ich das erkennen kann. Aber die Kleine ist in
ihrem Element, der Ausdruck ihres Gesichts wechselt ständig zwischen
aufreizender Kleinmädchenschnute und gleißendem Lächeln. Das Lächeln ist Show,
soll ihre Freundinnen beeindrucken, die rundherum stehen und ab und zu an ihren
Plastikbechern nippen. Voller Neid. Wer wäre das nicht? Sie bewegt sich wie
eine Tänzerin in ihrer eigenen Welt, auf ihrer eigenen Bahn, die sich nur
manchmal mit der von Silas schneidet. Hat er sie zum Tanzen aufgefordert? Warum
ist er hier? Krank ist er offensichtlich nicht. Und wenn er schon hier ist,
warum hat er mich nicht gebeten mitzukommen?
Das hier scheint mir ein Silas zu sein, den ich nicht kenne; so
wie ich auch den Silas heute auf dem Basketball-Court nicht kannte. Ich habe
Angst vor diesem Silas, der sich wie ein
Derwisch auf der Tanzfläche dreht, schon lange nicht mehr im Rhythmus mit der
Musik. Er würde sich wahrscheinlich zum Gespött machen, wären da nicht die
wütende Energie seiner Bewegungen, dieser brennende Blick. Vielleicht sind alle
von diesem neuen Silas fasziniert. Vielleicht warten sie nur darauf, dass er
wieder einen Ball von sich schleudert.
Ich sehe zu, bis ich nicht mehr kann. Ein paar Leute haben mich
in meinem Avery-Sweatshirt am Rand der Tanzfläche bemerkt, und ich weiß, dass
gleich das Getratsche anfangen wird. Silas und ich hätten uns gestritten.
Zwischen Silas und mir wäre Schluss. Silas hätte eine Neue, eine gelenkige
kleine Blonde in High Heels.
Ich wende mich ab und dränge mich hinaus, und dabei frage ich
mich: Ist Schluss? Hat er eine Neue?
Colm
I ch gebe zu, dass die Presse das Ganze
monströs aufgeblasen hat. Oder die Öffentlichkeit. Oder, im Grunde genommen,
die Schule selbst. Man kann die Schuld endlos hin und her schieben – eine
Tatsache allerdings lässt sich nicht
bestreiten: Die Presse hat kräftig Öl ins Feuer gegossen.
Ich habe meinen Artikel am Donnerstag, dem sechsundzwanzigsten
Januar, abgegeben, rechtzeitig für die Bostoner Morgenausgabe am Freitag. Mein
Gefühl in Bezug auf die Story war goldrichtig. Sie haben sie gleich unter dem
Bruch auf die erste Seite gesetzt. Es war erst das zweite Mal, dass ein Text
von mir auf der ersten Seite erschien, aber das nur nebenbei.
Ich glaube, ich habe das, was auf dem Band zu sehen ist, im Großen
und Ganzen richtig beschrieben, aber eigentlich kann man es sich überhaupt
nicht vorstellen, wenn man nicht mit eigenen Augen gesehen hat, was da gelaufen
ist. Klar musste ich es herunterspielen bis zum Gehtnichtmehr, damit es
halbwegs frühstückstauglich wurde.
Als ich in Avery war, hatte ich mir ein Schülerverzeichnis beschafft
und dann wahllos verschiedene Schüler angerufen. Unglaublich, wie viele von den
Kids zu dem Zeitpunkt bereit waren, mit einem Journalisten zu reden. Und was
ist das Gute an Schülern? Sie lügen selten. Sie übertreiben immer, und da muss
man genau hinhören. Aber sie lügen selten. Jedenfalls einem Journalisten
gegenüber.
Bis dahin hatte ich noch mit keinem der beteiligten Schüler
gesprochen. An die Familie Quinney kam ich nicht heran. Rob Leicht wollte auch
nichts sagen. Aber James Robles hatte später eine Menge zu erzählen – gegen den
Rat seines Anwalts wohlgemerkt.
Und ich habe immerhin ein interessantes, wenn auch kurzes
Telefongespräch mit dem Mädchen geführt, an dem die Jungen sich vergriffen
hatten. Ich bekam ihre Handynummer von einer ihrer Mitschülerinnen, und als ich
sie anrief, bekam ich ein paar ungewöhnliche und ziemlich widersprüchliche
Auskünfte von ihr. Ich glaube, ich bin
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