Weine nicht, Prinzessin
in Amsterdam besuche.«
»Super! Das wird sie sicher sehr beruhigen. Wie naiv bist du eigentlich? Du wolltest zu mir, jetzt bist du bei mir. Also vergiss deine Eltern. Die schalten sofort die Polizei ein.«
»Aber …«
In diesem Moment bremst Henk scharf ab und hält mit quietschenden Reifen auf dem Seitenstreifen. »Steig aus! Geh zu deinen Eltern! Los, mach schon! Ich halte dich nicht zurück! Aber dann ruf mich nie wieder an. Niiie wieder!!«
Lara zittert am ganzen Körper.
»Los! Aussteigen! Ich kann hier nicht ewig stehen.« Er schaut nervös in den Rückspiegel. »Es war eine schöne Zeit mit dir. Aber das war’s dann. Nooit meer on terug te keren! Auf Nimmerwiedersehen!«
Lara sitzt stocksteif neben Henk und kann keinen klaren Gedanken fassen.
»Du musst dich entscheiden! Deine Eltern oder ich!« Er trommelt ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad.
»Fahr weiter!«, sagt Lara leise.
Den Rest der Fahrt verbringen sie schweigend. Henk macht nur den Mund auf, wenn er sich über eine der vielen Baustellen aufregt. Er hält sich ganz genau an die Geschwindigkeitsvorschriften und wird bei jedem Schild mit der Aufschrift »Radarkontrolle« ganz unruhig.
Lara schaut aus dem Fenster, damit er ihre Tränen nicht sieht.
Endlich kommen sie in Amsterdam an. Wohin man schaut kleine Kanäle, die zwischen den Häuserreihen entlangfließen. Sie wurden vor vierhundert Jahren von Verbrechern, Tagelöhnern und Landstreichern gegraben.
»1.539 Brücken hat die Stadt«, sagt Lara.
»Woher weißt du das?« Henk schaut sie überrascht an.
»Geografie. Ich musste mal ein Referat über Amsterdam halten.«
Die Straßen sind schmal, viele Menschen sind mit dem Fahrrad unterwegs. Auch die Häuser sind schmal, haben aber vier oder fünf Stockwerke. Sie sind bunt bemalt, manche haben Dächer, die aussehen wie Glocken verziert mit Sahne.
Und immer wieder Wasser.
»Wohnen wir auf einem Hausboot?«
Henk lacht. »Vielleicht später. Wenn ich mal reich bin, kaufe ich ein Wasserschloss für dich, Prinzessin. Aber das dauert noch eine Weile!«
»Schade!«
»Aber ich habe einen Freund, der hat ein großes Hausboot. Der möchte dich auch kennenlernen. Gleich morgen werden wir hinfahren.«
Das vertraute und doch so verhasste Wort: »kennenlernen«. Als Henks Freunde sie vor acht Monaten »kennenlernen« wollten, begann der nicht enden wollende Albtraum.
Warum nur kann sie es nicht als normal empfinden, dass Henk sie mit seinen Freunden teilt, als wäre sie ein Kasten Bier?
Andere Mädchen können das doch auch.
Irgendwas stimmt nicht mit ihr.
Henk hat eine kleine Einzimmerwohnung mitten in der Altstadt von Amsterdam. Ein Bett, eine Kommode, ein Waschbecken und eine Kochnische. Das ist alles und doch würde Lara das Zimmer an diesem ersten Abend gegen keinen Palast auf der Welt eintauschen.
Als Henk die Wohnung kurz verlässt, um etwas zu essen zu holen, nutzt Lara die Gelegenheit zu Hause anzurufen. Sie kann die Eltern nicht ohne Nachricht lassen. Sie wird ihnen sagen, dass sie bei Henks Familie ist. Dann werden sie vielleicht nicht gleich zur Polizei gehen, sondern abwarten, bis sie sich wieder meldet. Sie traut sich aber nicht, im Pfannkuchenhaus direkt mit den Eltern zu reden. Also hinterlässt sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: »Mir geht es gut! Ich bin bei Henks Familie. Henk ist krank. Macht euch keine Sorgen. Ich melde mich wieder.« Dann schaltet sie das Handy aus und steckt es in ihre Jackentasche.
Die kleine Wohnung hat ein Fenster, das zu einer der Grachten hinausgeht. Als sie hinausschaut, bekommen die Sätze in ihrem Referat auf einmal eine Bedeutung. Da sind die Hebebalken an der Vorderfront der Grachtenhäuser direkt unter dem Dach. Die Treppenhäuser sind so eng, dass man größere Gegenstände wie Möbel von außen in die oberen Stockwerke hieven muss. Seile werden am Balken befestigt und die Waren dann mit einem Flaschenzug durch die Fensteröffnungen ins Hausinnere gezogen. Die Häuser sind darum leicht schräg nach vorne gebaut, damit die Lasten nicht gegen die Wände schlagen.
Überall sind fröhliche Menschen unterwegs, in Booten auf dem Wasser, zu Fuß oder mit Fahrrädern auf den Straßen. Vor den Restaurants sitzen sie auf Stühlen und Bänken, essen und trinken und genießen die Nachmittagssonne.
Wie gerne wäre sie jetzt auch dort unten. Sie wird Henk fragen, sobald er kommt. Es ist doch ihr erster Abend in Amsterdam. Sie könnten dort unten am Wasser sitzen, mit den Beinen
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