Weine nicht, Prinzessin
baumeln und den Booten zusehen.
Sie wird ihn fragen, gleich wenn er kommt.
Als die Wohnungstür geöffnet wird, dreht sie sich um und strahlt Henk an.
Hinter ihm kommen zwei weitere Männer herein.
Sie murmeln ein kurzes »Hoi!« und mustern sie dabei von oben bis unten.
»Hoi!«, antwortet Lara. Es heißt so viel wie »Guten Tag!«. Das ist das einzige Wort auf Niederländisch, das sie kennt.
Sie ist enttäuscht. Sie wollte den ersten Abend mit Henk alleine verbringen.
»Gute Freunde von mir. Sie wollen dich kennenlernen.« Seine Stimme ist kalt, es ist die Stimme des Henk, den sie fürchtet.
Lara starrt ihn ungläubig an.
Sie weiß genau, was das heißt: »kennenlernen«. Aber das kann er doch nicht machen! Nicht heute an ihrem ersten gemeinsamen Abend in Amsterdam.
Er kann und er wird.
Sie versteht die warnende Botschaft seiner Augen: »Reiß dich zusammen, Prinzessin!«, sagen sie. »Und ja keine Tränen!«
Wie dumm sie doch gewesen ist! Warum nur hat sie geglaubt, der andere Henk sei für immer verschwunden? Warum hat sie gedacht, sie müsse nie wieder einen von seinen Freunden »kennenlernen«?
»Sei froh, dass er weg ist, Lara! Du bist frei! Du kannst neu anfangen! Hast du den ganzen Ekel schon vergessen? Wenn du ihn wiedersiehst, fängt alles von vorne an!« Wie recht Sandra hatte! Warum nur hat sie nicht auf sie gehört?
Nun ist es zu spät und es fängt alles von vorne an.
15
Es gibt keine Dusche in Henks Wohnung. Und kein Pfirsichduschgel. Nur ein Waschbecken und Seife. Aber das reicht nicht, um den Schmutz zu beseitigen. Von Tag zu Tag fühlt sich Lara dreckiger. Es ist ein schreckliches Gefühl.
»Nun stell dich nicht so an, Prinzessin«, sagt Henk, als sie sich beklagt. »Dies ist kein Schloss, aber du hast immerhin Wasser. Da geht es dir besser als vielen anderen im Viertel.«
Immerhin führt er sie zu einem großen Supermarkt, wo man angeblich alles bekommt. Während er draußen wartet, sucht Lara verzweifelt nach Pfirsichduschgel. Vergeblich. Es gibt alle möglichen Düfte. Pfirsich ist nicht dabei.
Enttäuscht geht sie zu Henk zurück.
»Warum ausgerechnet Pfirsich? Das ist ja wie ’ne Sucht!« Henk ist genervt. »Es gibt tausend andere Obstsorten. Wie wäre es mit Mango oder Aprikose?«
Aber da bleibt Lara störrisch. Sie braucht den Pfirsichduft wie das Wasser zum Überleben. Nur wenn sie nach Pfirsich duftet, kann sie das andere ertragen.
Da hilft es auch nichts, dass Henk sie großzügig mit neuer Kleidung versorgt. Sie hatte ja nichts von zu Hause mitgenommen. Auch Make-up, Lippenstift und Lidschatten, alles bekommt sie von ihm geschenkt.
»Du bist die Schönste von allen, Prinzessin!« Lara kann das nicht oft genug hören. Sie sonnt sich in seinem Lob. »Die Männer werden verrückt nach dir sein.« Es gibt nichts, was Lara weniger möchte. Aber sie weiß auch, dass sie Henk verliert, wenn sie sich weigert.
In der Nachbargracht liegt das Hausboot von Henks Freund. Es ist ein umgebauter ehemaliger Lastkahn, auf dem zwei Stockwerke aus braunem Holz errichtet wurden. Im zweiten Stock liegt das große Wohnzimmer mit der Terrasse, auf der die Partys gefeiert werden.
Über eine Treppe gelangt man in das Untergeschoss, das knapp über der Wasseroberfläche liegt. Dort gibt es verschiedene kleine Zimmer, in denen die Mädchen sich um die Gäste kümmern müssen.
Hier verbringt Lara von nun an die meiste Zeit des Tages. In jeder freien Minute öffnet sie die Luke und taucht ihre Hand ins Wasser der Gracht. Vier Mal in der Woche wird es in die Nordsee abgepumpt und durch frisches ersetzt. Es ist angenehm kühl und die Nässe schenkt ihr ein Gefühl von Sauberkeit.
Aber dieses Gefühl hält nur kurz an. Zum Sauberwerden gehören Pfirsichduschgel und heißes Wasser, so heiß, dass es die Haut verbrennt, aber duschen dürfen an Bord nur die Gäste.
Am schönsten ist die Stunde, wenn sie mit Henk am Abend durch die Altstadt zurück in seine Wohnung geht. Dann setzen sie sich in eins der kleinen Lokale und essen Pfannkuchen, die Spezialität der Stadt.
In Laras Augen sind sie längst nicht so gut wie die der Großmutter oder des Vaters, aber sie sind das Einzige, was ihr von ihrem alten Leben geblieben ist.
»Wie lange noch, Henk? Du hast gesagt, wenn deine Schulden bezahlt sind … Ich kann das nicht mehr. Ich möchte nach Hause zurück. Meine Eltern, die sind bestimmt verrückt vor Sorge.«
Tagelang hat sie diese Worte einstudiert. Als sie dann endlich den Mut fasst, sie
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