Weine ruhig
war freundlicher als sonst, setzte sich sogar eine Weile zu uns und erzählte, dass er an den Feiertagen bei seiner Familie sein würde.
Ich ging nach oben, so wie jeden Morgen. Das Büro, in dem ich putzen sollte, hatte nur eine Tür, die zum Flur hinausging. Ich wusste, dass ich an diesem Tag zum letzten Mal die Chance hatte, eine Türklinke zu stehlen, die uns vielleicht zur Freiheit verhelfen würde. Ich zog an der Klinke, aber sie bewegte sich nicht - sie war festgeschraubt. Was tun? Wo fand ich eine andere Türklinke? Ich fing an, das Büro zu putzen, aber ich war so nervös, dass meine Hände mir nicht gehorchen wollten.
Gegen Mittag schlich ich auf den Flur, von dem mehrere Büros abgingen. Die meisten waren verlassen, auch in den beiden Toilettenräumen war niemand. Ich stand still und lauschte. Ich hörte, wie in der Kantine im Stockwerk über mir die Stühle herumgeschoben wurden. Die Wachen machten Mittagspause. Danach würde der Wachmann vom Dienst mir etwas zu essen bringen und mich vermutlich einschließen. Ich musste sofort eine Türklinke finden. Jetzt oder nie!
Auf Zehenspitzen ging ich den Flur hinunter und probierte sämtliche Türgriffe. Ich öffnete eine Tür nach der anderen, versuchte, eine Klinke abzuziehen, und schloss die Tür dann wieder. Schließlich hatte ich Glück und fand eine Klinke, die locker war. Ich schwitzte vor Aufregung. Schnell steckte ich mir die Klinke unter den Arm und legte ihn eng an. Dann schlich ich zurück ins Büro. Ich versteckte den Türgriff unter einem Stapel Papier in einem Regal und arbeitete weiter.
Bald darauf kam ein Wachmann, den ich nicht kannte, und brachte mir etwas zu essen. Ich bekam eine größere Portion als sonst, mit einer Extrawurst, wegen der Feiertage. Ich war schrecklich nervös, versuchte aber, mich ganz natürlich zu verhalten. Gegen Abend, kurz bevor der Wachmann kam, der mich zurück in den Keller bringen würde, nahm ich die Klinke und steckte sie mir unter den Arm.
Mein Herz raste, als der Wachmann erschien. Es war der übliche Wärter, der mich leutselig, schon in Feiertagslaune, begrüßte und mich zur Eile antrieb. Er wolle nach Hause und den Weihnachtsbaum schmücken. Ich versuchte, ganz ruhig zu sein, aber meine Hände zitterten. Doch der Wachmann merkte nichts. Er kontrollierte flüchtig, ob das Büro geputzt war, und befahl mir, ihm zu folgen. Ich drückte den Arm fest an, damit die Klinke nicht herausrutschen konnte. Ängstlich schielte ich zum Wachmann hinüber, aber der war entspannt und erzählte, dass die Gefangenen am Heiligen Abend ein besonders gutes Essen bekämen. Im Keller verabschiedete er sich, indem er uns frohe Weihnachten wünschte, und stieg eilig wieder die Treppe hinauf.
Nachdem die Schritte des Wachmanns sich entfernt hatten, sahen mich alle erwartungsvoll an. Ich holte die Klinke hervor und brach in Tränen aus. Ronny kam zu mir und streichelte meinen Kopf. Alle sahen mich dankbar an und umarmten und küssten mich, aber ich hatte immer noch entsetzliche Angst, dass jemand die fehlende Türklinke bemerken würde. Natürlich würde man zuerst das jüdische Mädchen, das die Büros putzte, verdächtigen. Aber der Abend verlief friedlich. Vater versteckte die Türklinke an einem sicheren Ort, und wir besprachen nun die Einzelheiten des Plans, der am Heiligen Abend ausgeführt werden sollte.
Heiligabend
Die Stimmung am Morgen des 24. Dezember war verändert. Man hörte ein geschäftiges Hin und Her, Musik aus den oberen Stockwerken drang bis zu uns in den Keller. Trotzdem kam ein Wachmann und öffnete, wie jeden Tag, die Tür zum Kohlenkeller mit einer Klinke, die er dann wieder mitnahm.
Zusätzlich zu der Kanne Tee und den Brotscheiben - unserem normalen Frühstück - gab man uns ein paar Kekse, weil Weihnachten war. Josef, der Liebling des Wärters, bekam außerdem Zigaretten und eine Wurst. Der Wachmann sagte den Männern, dass sie ihr tägliches Pensum heute etwas schneller erledigen müssten. Er wolle schon am frühen Nachmittag nach Hause gehen, um mit seiner Familie Weihnachten zu feiern.
Draußen herrschte eine klirrende Kälte, nachts hatte es geschneit, und die Öfen mussten beheizt werden. Die Männer mussten also arbeiten, trotz der Feiertage. Bald würden sich nur noch wenige Wachleute in dem Gebäude aufhalten, und am Nachmittag würde das Leben in der Stadt zum Stillstand kommen. Selbst der öffentliche Verkehr würde bis zum anderen Morgen eingestellt werden.
Ich erinnerte mich an
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