Weinen in der Dunkelheit
Fürsorgerin davon und bestellte mich zu sich. Sie schaute mich ernst an und sagte:
»Warum hast du nicht eher darüber gesprochen? Du hättest dir vieles erspart.«
Das klang sehr resigniert. Vielleicht hatte sie sich für mich wirklich mehr Glück erhofft. Gott sei Dank unternahm sie keinen weiteren Versuch, mich in einer Familie unterzubringen. Nach elf Jahren Heimerziehung wäre es auch zwecklos gewesen. Ich war schon zu sehr Heimkind und betrachtete das Heim als mein Zuhause. Für mich war es normal, ohne Vater und Mutter zu leben.
Jugendweihe
Langsam rückte der Tag naher, an dem wir in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen werden sollten. Es war der Tag, den man »Jugendweihe« nannte, wo die Vierzehnjährigen mit Blumen, hochhackigen Schuhen, Frisur nach dem letzten Schrei und großen Büchern mit dem Titel »Weltall, Erde, Mensch« durch die Straßen liefen. Es gab neue Klamotten, dafür ließ der Staat sechshundert Mark springen. Die Erzieher hatten große Mühe, für jede das richtige Kleid zu finden. Unterwäsche, Schuhe und Mäntel brauchten wir auch.
Die Jugendweihestunden verbrachten wir im Sinne der sozialistischen Gesellschaft: Besuch im KZ Sachsenhausen, Besuch in den volkseigenen Betrieben und feierlicher Abschluß eines Patenschaftsvertrages mit der Volksarmee in Adlershof. Die Soldaten nahmen die Partnerschaft sehr ernst und gründeten in unserer Mädchengruppe eine Arbeitsgemeinschaft für Judo und Schießen, in die wir alle wie selbstverständlich eintraten. Wir wollten es den Jungs zeigen, wenn sie uns zu nahe kämen. Nach den ersten Übungen reichte es mir. Das schmerzhafte Werfen auf die harte Matte war noch nicht das schlimmste, aber der Festhaltegriff, bei dem ich auf dem Rücken lag und ein schwitzender Soldat über mir, erregte meinen Widerwillen. Wütend und hilflos gegen seine Stärke, wehrte ich mich und versuchte vergeblich, wieder unter ihm hervorzukommen. Er schien es zu genießen. Ich weigerte mich, weiter dort hinzugehen, und mußte mir das Schimpfen der FDJ-Sekretärin anhören:
»Die Soldaten opfern extra für uns ihre wenige Freizeit!«
Ich sagte, auf dieses Opfer könne ich gerne verzichten. Die Antwort wurde natürlich als Undankbarkeit gegenüber unserem Staat ausgelegt. Ich sollte mich bessern, sonst bekäme ich keine Jugendweihe. Ich sagte nichts mehr.
Fast alle Mädchen waren eingekleidet, nur für mich fand sich nichts Passendes. Schließlich steckten sie mich in ein wadenlanges, hellblaues Kleid mit einem Reißverschluß vom Hals bis zum Hinterteil. Und da es mir zu weit war, kam ein Gürtel herum, und fertig war ich.
Mein Spiegelbild brachte mich zum Lachen und Weinen. Ich sah doppelt so alt aus. Trotzdem, das Kleid wurde gekauft dazu kamen ein Paar Schuhe mit hohen Absätzen. Gleich nebenan war der Frisör. Die ganze Mädchengruppe mußte unter die Haube, es wurde toupiert und Haarlack in Massen versprüht. Jetzt sahen wir um den Kopf erwachsen aus. Die Erzieherin bewunderte uns und sagte:
»Wie gepflegt ihr gleich ausseht.«
Mich bedachte sie noch mit dem Extra-Satz:
»Jetzt erkennt man sogar dein Gesicht.«
Die Mädchen schliefen die Nacht über im Sitzen, damit an der Frisur nur kein Schaden entstand.
Unsere Feierstunde fand im Fernsehfunk statt. Am Morgen herrschte unter uns schreckliche Aufregung. Fix und fertig angezogen, standen wir schon vor dem Wecken da und probten das Laufen in den Stöckelschuhen. Ich lief recht unsicher, wie auf Eiern, dabei sah ich so komisch aus, daß die Mädchen über mich herzhaft lachten.
Im Fernsehfunk warteten schon die Verwandten, Lehrer und Erzieher sowie der Heimleiter. Wir sollten erst hineingehen, wenn die Gäste schon saßen. Immer paarweise, Junge und Mädchen, schritten wir den roten Teppich entlang zur Bühne, dort oben setzten wir uns.
Es wurde viel über Sozialismus und Frieden geredet und daß jeder sein Bestes geben solle.
Dann betrat Karl-Eduard von Schnitzler das Rednerpult. Durch unsere Reihen ging ein Kichern und Flüstern. Mit seinen Orden und Abzeichen sah er wie eine Schrottsammlung aus, was ich meiner Freundin leise ins Ohr flüsterte. Sie verbiß sich mühsam das Lachen. Schnitzler bemerkte unsere Heiterkeit. Anfangs hatten wir ziemlich ernst und still auf unseren Plätzen gesessen, aber die Aufmerksamkeit ließ rasch nach. Uns war nicht feierlich zumute, sondern wir langweilten uns, und von dem politischen Gerede der Erwachsenen verstand ich sowieso nichts.
Schnitzler kam gleich auf seine
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