Weinen in der Dunkelheit
hysterisch. Die Hausleiterin schickte uns aus dem Raum. Regina war die einzige, die schon ihre Lehre im September beendet hatte und richtig Geld verdiente. Im Heim hätte sie, trotz ihrer Volljährigkeit so lange bleiben dürfen, bis sie eine Wohnung bekam.
Am Abend betrat sie unser Zimmer. Ohne ein Wort der Entschuldigung packte sie ihre Sachen und ging für immer. Die Heimleiterin schickte sie in ihr Elternhaus zurück, obwohl es dort Probleme gab.
Trotz der Enttäuschung tat sie mir leid.
Zwei Tage später kam eine Neue. Die Mutter, Alkoholikerin, kümmerte sich nicht um sie. Ein hübsches Mädchen, leider ohne richtige Schulausbildung. Sie wurde als Zimmermädchen in einem Hotel angelernt.
Weihnachten 1967
Wir gingen in den Speiseraum, ein Tannenbaum stand festlich geschmückt in der Ecke, eine Schallplatte leierte Weihnachtslieder. Einzeln riefen uns die Erzieher mit Namen auf, und wir erhielten Staatsgeschenke in Form von Bettwäsche und zwei Handtüchern sowie einen bunten Teller - Erika und ich hatten uns gegenseitig beschenkt. Wir brachten unsere Präsente in unser Zimmer und wußten nicht, was wir noch mit dem Weihnachtsabend anfangen sollten.
»Komm«, sagte ich, »wir fahren S-Bahn.«
Die Abteile der S-Bahn waren gespenstisch leer, wir saßen und schauten in die vorbeifliegenden Weihnachtsstuben.
»Es muß schön sein, eine richtige Familie zu haben«, sagte ich.
Erika gab mir recht, und traurig wandte sie sich ab. Ich ließ sie in Ruhe, bestimmt dachte sie an ihre Mutter.
Hinter der Mauer, im Westen, glänzten die Lichter noch stärker, die Fenster übertrafen sich mit ihren Lichterketten gegenseitig. Dagegen wirkte unser Ostteil richtig dunkel. Und schon lebten wir auf. Wie es wohl im Westen ist? Schade, daß man nicht rüberfahren kann. Viele Bücher von Emile Zola hatten wir gelesen. Ob wir jemals nach Frankreich kommen? Wird unser Reiseland immer die DDR bleiben? Bleibt die Mauer für immer? Über solche Fragen redeten wir von Endstation bis Endstation. Ehe wir es uns versahen, war es neun Uhr. Zurückgekehrt ins Heim, machten wir es uns noch mit einigen Mädchen gemütlich. Ich erlebte Weihnachten einmal ganz anders: vom Gefühl der Einsamkeit und dem Nachdenken über uns und die Welt bis zur ausgelassenen Fröhlichkeit. Es ging mir gut.
Gedanken
In den ersten wannen Frühlingstagen legte ich mich mit einem Buch in den Garten hinterm Haus. Ich genoß die Ruhe, den Blütenduft der Obstbäume und las. Eine Erzieherin trat zu mir und sagte;
»Bitte steh auf, du holst dir was weg!«
»Ach, Quatsch«, antwortete ich, »ich werde schon nicht krank.«
Sie verschwand wieder. In Ruhe las ich weiter. Als ich später ins Haus gehen wollte, hörte ich nebenan auf dem Grundstück eine alte Frau weinen. Schlagartig wurde mir bewußt, daß neben unserem Jugendwohnheim ein Altersheim stand. Ich wußte es schon vom ersten Tag an, aber so richtig hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. War das mein Schicksal: Kinderheim, Jugendwohnheim und zur Krönung das Altersheim? Panik erfaßte mich, bloß das nicht! Ich empfand den Frühling nicht mehr, mir wollten die Gedanken nicht aus dem Kopf. Lieber sterbe ich, als nur im Heim zu leben. Mit wem konnte ich darüber sprechen? Mit niemandem.
Ich sortierte meine Gedanken und freute mich über das Ergebnis: Nur ich allein werde mir mein Leben gestalten und versuchen, das Beste daraus zu machen; so schnell wollte ich nicht aufgeben.
Also beschloß ich, die Welt zu entdecken, auch wenn diese Welt erst einmal die Hälfte einer Stadt mit ihrer Umgebung war.
Potsdam
Meine erste Entdeckung war Potsdam. Eine kleine, total vergammelte Altstadt. Sofort verliebte ich mich in ihre traurig wirkende Fassade. Stundenlang konnte ich mit Erika durch die Gassen spazieren, immer wieder entdeckten wir neue Details an den alten Häusern. Keine Hektik wie in Berlin; Potsdam wirkte ruhiger, richtig verträumt. Die größte Freude war allerdings das Schloß mit seinem riesigen Park. Jedes Wochenende fuhren wir bei schönem Wetter dorthin. Nicht auf den breiten Touristenwegen liefen wir, sondern wir entdeckten die entferntesten Winkel des Parks. Im Schatten der Baume redeten wir über alles mögliche und freuten uns über das lange Leben, das noch vor uns lag. Wir wollten alles besser machen als die Erwachsenen. Zum Beweis unserer Freundschaft ritzten wir unsere Namen in einen jungen Baum, er sollte mit uns wachsen.
Hausarrest
Im Mai hieß es: Wir fahren gemeinsam zur Kaserne
Weitere Kostenlose Bücher