Weinrache
frühen Morgen war der Anruf gekommen, und sie hatte ein Treffen für die Mittagszeit vereinbart. Den Grund ihres Besuchs hatte sie nicht genannt. Erwartungsvoll stieg sie die wenigen Stufen zum Kellereingang hinunter und läutete. Die Architektin öffnete sofort. Sie mochte Anfang 30 sein. Klein und dunkelhaarig und mit einer rundlicheren Statur als auf dem Foto in Fischers Arbeitszimmer, erschien sie Norma voller Energie und Tatkraft. Norma fühlte sich von einem warmherzigen Lächeln willkommen geheißen.
Franziska Katz begleitete sie in einen Büroraum. Sie bat um Entschuldigung, sie müsse ein Telefonat zu Ende führen. Ob Norma einige Minuten warten könne? Die Architektin ging nach nebenan und schloss die Tür hinter sich. Undeutlich klang ihre Stimme herüber. Sie schien auf jemanden einzureden. Norma betrachtete die Grundrisspläne, die eng aneinander an den Wänden hingen, und nahm eine Reihe gerahmter Fotografien näher in Augenschein, als Franziska Katz ins Zimmer zurückkehrte. Die Architektin entschuldigte sich zum zweiten Mal. Ihre Eltern wollten das Wohnhaus in Hamburg verkaufen, gab sie an und in eine Eigentumswohnung ziehen. Um die Eltern beim Verkauf zu unterstützen, sei sie bis gestern in Hamburg geblieben.
Norma freute diese Information. Auf ihrer Reise hatte Franziska Katz hoffentlich nichts von der Aufregung um den Toten im Bärengehege mitbekommen. Ansonsten schien jeder Wiesbadener zu wissen, wer Arthur Tanns Witwe war, und Norma hatte die Bemerkungen und das Getuschel gründlich satt und war kaum aus dem Haus gegangen. Einen Menschen gab es allerdings, mit dem sie sich gern unterhalten hätte. Aus vielfältigen Gründen. Aber Tiri hatte sich nicht gemeldet, und bei dem überraschenden Zusammentreffen am Abend zuvor war er ihr eher verunsichert als erfreut erschienen. Sie hätte ihn gern gefragt, warum er geleugnet hatte, Bruno Taschenmacher zu kennen, fand aber keine Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen. Lutz war wie ein eifersüchtiger Liebhaber an ihrer Seite geblieben. Sie musste sich seine angespannte Gemütsverfassung mehrmals ins Gedächtnis rufen, um mit ihrem Schwiegervater keinen handfesten Krach anzuzetteln.
Franziska Katz lächelte gequält. »Der Umzug ist seit Monaten geplant. Aber nun, da es ernst wird, kommen meiner Mutter Bedenken. Dabei ist sie es, die sich seit Jahren über die Arbeit in Haus und Garten beklagt.«
»Es fällt schwer, das Vertraute aufzugeben«, sagte Norma.
Sie deutete auf die Fotos. Die Abbildungen zeigten die ›Villa Stella‹ nach der Renovierung aus unterschiedlichen Perspektiven. Daneben hingen Aufnahmen vom früheren Zustand. »Kaum zu glauben, dass es sich um ein und dasselbe Gebäude handelt.«
Franziska Katz stimmte ihr eifrig zu. »Sie interessieren sich für Architektur? Die Villa bot in der Tat einen bedauerlichen Anblick. Kennen Sie die Geschichte des Hauses?«
»Ich weiß, dass Marcel Breuer die ›Villa Stella‹ entworfen hat«, erwiderte Norma. »Der Designer, der die Stahlrohrsessel erfand.«
Franziska Katz schmunzelte. In Deutschland sei Marcel Breuer in erster Linie durch seine Stahlrohrmöbel bekannt geworden, bestätigte sie, und weniger als Bauhaus-Architekt. In Amerika dagegen schätze man ihn vor allem als Vertreter der ›Dessauer Schule‹. Breuer emigrierte 1937, als er, der 1902 in Ungarn geboren wurde, in Deutschland keine Zukunft für sich sah. In der neuen Heimat arbeitete er eng mit Walter Gropius zusammen. Die Amerikaner betrachteten Marcel Breuer als einen der führenden Architekten der 50er bis 70er-Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts, beendete sie ihren kurzen Vortrag.
Norma hatte gespannt zugehört. »Wie gelangte Wiesbaden an einen Entwurf von Breuer? Soweit ich weiß, spielt die Bauhaus-Architektur in unserer Stadt keine bedeutende Rolle.«
»Historismus, Neobarock und Jugendstil sind in Wiesbaden viel zahlreicher vertreten«, stimmte Franziska Katz zu. »Dennoch gibt es verschiedene Beispiele aus der Bauhauszeit. Denken Sie an das Opelbad!«
Das Freibad unterhalb des Nerobergs bot nicht allein eine weite Aussicht auf die Weinberge und die Stadt, sondern dank seiner klaren Linien auch selbst einen angenehmen Anblick, wusste Norma von wenigen gemeinsamen Besuchen mit Arthur in einem frühen Sommer ihrer Liebe. Während er seine Bahnen zog, lag sie mit einem Buch im Schatten. Arthur hatte seinen Drang nach sportlicher Betätigung unvermittelt wieder eingestellt.
»Von 1928 bis 33 besaß Breuer
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