Weinzirl 02 - Funkensonntag
wieder mal eine typische Kennerknecht-Eröffnung.
Gleich mal einige Bauern geopfert. Immer volles Risiko. Die Königin war schon
jetzt exponiert.
»Warum die Wahrheit um jeden Preis? Wenn die Wahrheit schön wäre,
aber die Wahrheit ist meist viel schmutziger als die Lüge, als die
Verschleierung. Pah! Die Wahrheit, die ist grell und leuchtet in den letzten
Winkel. Wollen Sie das wirklich, und wem nutzt das letztlich?« Quirin
deklamierte mehr, als dass er redete.
Jo starrte ihn an. Quirin kam ihr vor wie ein moderner Mephisto. Sie
beschloss, ihm direkt zu antworten.
»Vielleicht nutzt die Wahrheit Adi Feneberg? Oder seiner Familie. Es
ist besser zu wissen, warum sich Tragödien ereignet haben, als immer nach dem
Warum zu fragen.«
»Sie glauben also wirklich, ich wüsste etwas über den Tod von Adi
Feneberg?«, fragte Quirin
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber ich möchte wissen, warum
er gestorben ist. Weißt du, weswegen Adi Feneberg sterben musste?«
»Stets stirbt jemand, längst bevor er tot ist! Durch die Ungeduld,
durch das Unvermögen, durch die Abwesenheit von jemandem, durch die Dummheit
eines Menschen. Wir haben uns daran gewöhnt. Ich will mich daran nicht
gewöhnen. Jetzt nicht und in Zukunft nicht.«
Verdammt, der Knabe war einfach nicht zu greifen. Aber Jo wollte
nicht aufgeben.
»Okay, Quirin, das stimmt wohl leider. Menschen sind dumme
Trampeltiere. Aber was hat das alles mit Adi Feneberg zu tun? War Adi ein
Trampeltier?«
»Und gleich sagen Sie mir, dass der Schmerz vergeht. Dass mit
zunehmendem Alter die wilden, verwegenen Wünsche vergehen. Was ist denn das für
eine Aussicht? Resignation verbrämt als die Milde des Alters? Was wird denn aus
den Plänen, die ihr nie umsetzt? Irgendwo gibt es einen Friedhof der
unerfüllten Wünsche. Eine Deponie gewaltigen Ausmaßes. Seelenmüll, und
irgendwann wird der Haufen so groß, dass er unaufhaltsam auf euch zukommen
wird. Auf Sie auch! So wie die Lava des Ätna – und ihr werdet ersticken!«
Jo wurde langsam sauer angesichts seiner theatralischen Prophezeiungen.
»Und du, du denkst, es sei eine Lösung, jemanden im Funkenfeuer zu ersticken?«
Quirin lachte ein klirrendes Lachen. »Was Sie so alles zu wissen
glauben. Wieso sollte ich ausgerechnet mit Ihnen reden?«
»Weil ich dich verstehe. Weil du Recht hast, dass es selten Milde
des Alters gibt, dafür aber Resignation und Aggression. Weil ich selbst die
Unschuld verloren habe, wirklich zu leiden, wirklich zu rasen, wirklich zu
trauern. Ich ertappe mich dabei zu sagen: Das Leben ist eben so. Das ist Scheiße!
Und weil das so ist, sollst du mit mir reden.«
Quirin schwieg.
Jo, der jetzt alles egal war, rief aus: »Ich erzähl dir jetzt mal
was Quirin! Etwas aus meiner Schulzeit. Ich gehörte zu einer Gruppe von
Schulrevoluzzern inmitten von braven, aufrechten Kollegiaten. Ich war der
Alptraum meines Kunstleistungskurs-Leiters. Es war wohl der Frust über eine
gescheiterte Künstlerlaufbahn, auf jeden Fall ist er an seiner
überdurchschnittlichen Durchschnittlichkeit gescheitert. Ausbaden durften wir
Schüler es. Das Ganze gipfelte in einer sogenannten ›Selbstdarstellung‹.
Mittels Fotografie und Verkleidung sollten wir Fotos von uns schießen und genau
erklären, was wir fühlen. Anfangs habe auch ich mich einlullen lassen, brav
mein Innerstes nach außen gekehrt unter dem Kommentar seiner ätzenden Worte.
Ich spüre die Enttäuschung noch darüber, dass ein erwachsener Mann zu so
niederen Mitteln griff und uns bloßgestellt hat.«
Quirin hatte aufmerksam zugehört. »Ja, Sie sagen es, es ist
unwürdig, wenn ein Erwachsener so handelt.«
Zum ersten Mal schien Jo an ihn heranzukommen. Sie lächelte ihn an.
»Ich habe dann extra schlechte Arbeiten abgegeben. Die Note hat
meinen Abiturschnitt und unser Verhältnis endgültig ruiniert. Und ich entdeckte
einen Charakterzug an mir: Auch wenn die Folgen katastrophal sind, geschicktes
Taktieren, das ist nicht das Meine. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Es ist
auch mir ein Gräuel, wenn einer resümiert: Ich bin froh, ein ereignisloses
Leben geführt zu haben. Ich werde nicht einwilligen, genauso wenig wie du, aber
das ist doch kein Grund, jemanden umzubringen.«
Quirin sah sie nur unverwandt an. Die Luft war geladen. Er füllte
den Raum aus. Er hatte eine überstarke Präsenz. Eine unangenehme Präsenz.
»Wisst ihr etwas über Adis Tod? Du oder Steffen oder Irene?«, fragte
Jo vorsichtig.
»Lassen Sie Irene aus dem
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