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Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Titel: Weinzirl 04 - Gottesfurcht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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versucht
waren wegzusehen. So viel Verzweiflung, solche Intimität. Es war unrecht,
daneben zu stehen.
    »Vinzenz! Vinzenz!«,
rief Josefa Heringer in Richtung Tür. Und an Gerhard gewandt. »Vinzenz Zwinck,
ein Freund der Familie, Emeritus an der medizinischen Fakultät der TU in München. Wir wollen alle zusammen
die Gans …« Sie brach ab.
    Ein Mann eilte
herein, ging vor Helga Kölbl auf die Knie, flüsterte leise. Schließlich stand
sie auf. Er stützte sie, und sie gingen hinaus.
    Während Vinzenz
Zwinck sich um Helga Kölbl kümmerte, brachte Josefa einige Tassen Kaffee
herein. Von der eilig zur Seite geschobenen Gans stieg noch immer ein leichter
Geruch nach Zimt, Apfel und Bratensoße auf. Im Herrgottswinkel hing ein
geschnitzter Christus, darunter stand eine Miniaturkrippe, die Tiere so winzig
und doch so filigran, dass Gerhard genauer hinsehen musste.
    »Beeindruckend!«
    »Ja, mein Schwager
war auf Tierschnitzerei spezialisiert.«
    Gerhard sah sie
fragend an.
    »Ja, das ist so.
Einer, der dem heiligen Josef Leben einhaucht, muss den Esel noch lange nicht
beherrschen. Manche Schnitzer machen nur Madonnen, mein Schwager hat Tiere
geschnitzt. Darin war er brillant.«
    »Georg Kölbl war
also Ihr Schwager?«
    »Ja, er hat meine
Schwester im zweiundsechziger Jahr geheiratet.«
    Gerhard spürte, dass
sie noch mehr sagen wollte.
    »Und das war damals
eher ungewöhnlich?«
    »Sie sagen es. Der
Georg war ein bettelarmer Junge. Er war zweiundzwanzig Jahre jung. Er war bei
seinem entfernten Onkel eingezogen, hatte an der Schnitzschule so eine Art
Stipendium, und er hat bei uns gearbeitet. Der Vater hat ihn ziemlich
gepiesackt, aber letztlich war er von Georgs Willenskraft beeindruckt und von
seinem Talent überzeugt. Deshalb hat er die Helga dann am End doch heiraten
dürfen. Sie war ja auch gerade erst achtzehn. Aber es gab natürlich Gerede,
dass er sich gesundgestoßen habe.«
    »Weil er so arm
war?«
    »Ja, natürlich. Wir
sind wohlhabend, nicht unbedingt wegen der Schnitzerei, aber wir haben einige
Häuser in Garmisch geerbt, die Mieteinnahmen und Verkäufe ermöglichen uns ein
angenehmes Leben. Das war zu unseres Vaters Zeiten so und ist heut noch so.«
    »Und da kommt der
arme Schlucker und heiratet die reiche Erbin. Ich kann mir vorstellen, dass das
Anlass zu Spekulationen gegeben hat«, sagte Gerhard und lächelte die Frau
aufmunternd an.
    »Ja, aber Schorsch
hat sich mehr und mehr Respekt erworben, als die Hälfte der Gemeinde 1981 das
Pilatushaus hat abreißen wollen. Stellen Sie sich vor: um Raum für einen
Parkplatz zu schaffen! Der Georg und einige andere haben es geschafft, mit
Hilfe von Radio, Fernsehen und Denkmalschutz das Haus zu retten – heute ist
jeder froh. Ja, die Familie hat ihn immer geschützt. Helga vor allem. In guten
wie in schlechten Tagen, bei ihr war das keine Floskel. Wir haben
zusammengehalten. Das tun wir …«, sie machte eine kleine Pause, »tun wir heute
erst recht.«
    Gerhard blickte
wieder fragend und sagte, als ob er leicht abwesend wäre: »Ähm, ich bin nicht
von hier. Wieso heute erst recht? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, war
Georg doch nun auch ein angesehener Bürger der Stadt, oder?«
    »Nun, wenn Sie nicht
von hier sind, lesen Sie vielleicht noch nicht lange unsere Zeitung und hören
Radio Oberland. Wir waren mal eine angesehene Familie. Heute sind wir
Hassobjekte.«
    »Wegen Ihres armen
Schwagers?«
    »Nein, wegen des
Masts. Wenn mein Mann gewusst hätte, was das auslöst, hätte er es gelassen.«
    »Der Mast?«
    »Der Mobilfunkmast!
Wir haben landwirtschaftlichen Grund in Unterammergau. Mein Mann hat einen
Mobilfunkmast errichten lassen, er wollte mich damit absichern. Auch ich habe
einen Mann geheiratet, der für die allgemeine Lesart unter meinem Stand war.
Aber im Gegensatz zu Georg, dem Künstler, dem Hochbegabten, war mein Mann
einfach nur Landwirt. Er wollte beweisen, dass er sehr wohl eine Lang-Tochter
verhalten kann. Verstehen Sie, er wollte, dass ich von seinem Geld lebe, nicht
von meinem Familienerbe. Er hatte Krebs, und vor seinem Tod hat noch den
Vertrag mit der Mobilfunkgesellschaft abgeschlossen. Für mich! Was glauben Sie,
was seither los ist. Ich bekomme Drohungen, man redet, ich wäre steinreich
geworden. Noch reicher, als ich eh schon wäre. Dabei ist die Miete für den Mast
gerade genug für Krankenkasse und Versicherungen. Die Menschen sind
missgünstig, neidisch und boshaft. Ohne Helga und den Georg würde ich das nicht
durchstehen.«

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