Weinzirl 04 - Gottesfurcht
enthalten, aber Gerhard fühlte sich verantwortlich.
»Das konnte man nicht
ahnen.« Auch Gerhard wählte das neutrale Man.
»Verdammich!« Baier
zog an wie ein schwer arbeitendes Ross am Wassereimer. Sein Weißbier war über
die Hälfte geleert. »Herrschaft Zeiten! Ein Herzinfarkt, der wie durch
Zauberhände in einen hohlen Baum geraten ist, und ein Derwürgter. An
Weihnachten, in den Raunächten.«
Gerhard fasste das
Unglaubliche nun auch für sich zusammen: »Ein Mann erleidet einen Herzinfarkt.
Im Eibenwald, im Nieselregen. Und dann kommt einer und ist so fürsorglich, dass
er ihn in den Baum setzt. Da wo es trocken ist und kuschelig? War das Frau
Kassandra?«
»Nie, dieses boinige
Henna hat doch nie so viel Kraft.«
»Wer weiß, so schwer
war Draxl nicht«, gab Gerhard zu bedenken.
»Aber warum hätte
sie das tun sollen? Und uns dann alarmieren?«
»Weil sie auf
Publicity hoffte? Weil das ganze Gequatsche über Raunächte eben nur Gequatsche
ist. Wenn sie aber einen Beweis für die Magie und Macht der Raunächte hat, dann
kriegt ihre Kundschaft vielleicht Angst. Und lässt sich von Frau Kassandra
beraten, kauft ein Raunacht-Überlebens-Kit. Was weiß ich, wie das in dieser
Szene abläuft«, sagte Gerhard, der es immer noch nicht ganz verwunden hatte,
dass diese Kassandra ihn augenscheinlich veräppelt hatte.
»Sie soll das
inszeniert haben? Ich weiß nicht, Weinzirl! Und wie passt das mit Kölbl
zusammen? Den hat sie umgebracht, weil sie ja schließlich auch ein Mitglied bei
den Mobilfunkgegnern ist? Alles Zufall? Den Ersten hat sie zufällig gefunden
und beschlossen, Profit draus zu schlagen? Und irgendwie ist sie in ihrer
Funktion als Anti-Mobilfunk-Nervensäge an Kölbl geraten und hat den dann auch
gleich noch umgebracht? Nichts als ein Zufall, der uns vorgaukelt, einen
tieferen Sinn zu haben?«
Baier sprach in
ganzen Sätzen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er voll bei der Sache war,
dass er alarmiert war. Sie tranken beide schweigend, bis Gerhard schließlich
anhob: »Ob Kassandra dem Draxl die Augen zugedrückt hat, finden wir relativ
leicht heraus, indem wir ihre Fingerabdrücke nehmen, oder? Und wegen Kölbl? Vielleicht
hat sie ja ‘nen Ledergürtel.«
»Ja sicher. Jetzt
lassen wir die Kollegen Steigenberger und Kienberger erst mal den Computer mit
den Fingerabdrücken füttern. Vielleicht ist er ein alter Bekannter, vielleicht
hat das BKA ihn?«, sagte Baier.
»Ja, oder die CIA oder Europol.« Gerhard flüchtete
sich in Ironie.
Sie ließen die
jungen Kollegen arbeiten und hackten beide selber halbscharig in die Tasten.
Aber weder Gerhard noch Baier hatten eine Affinität zu Computern. Wenn Gerhard
sich solch einer Maschine nur näherte, stürzte sie ab, fing sich Viren und
Würmer ein oder erhielt vernichtende Stromstöße auf die Festplatte. Aber auch
der junge Steigenberger fand nichts.
»Kein Kunde,
nirgendwo!«
»Verdammich!«, rief
Baier. »Rufen Sie diese Frau Kassandra an, kündigen Sie uns an.«
Er warf Gerhard die
Karte über den Tisch.
Gerhard wählte die
Nummer und wurde mit einem hellen »Marakala« begrüßt. Gott, die Alte hatte echt
einen Schuss.
»Ja, Ihnen auch
einen schönen Tag. Wir hätten da noch einige Fragen, können wir vorbeikommen?«
»Schlecht, ich bin
gerade in Weilheim, aber ich kann bei Ihnen vorbeikommen?« Sie klang plötzlich
ganz vernünftig.
»Ja, bitte, wenn es
Ihnen nichts ausmacht.«
Sie kam wenig später
mit Plinius im Schlepptau und war ausgesucht höflich. Sie meuterte nicht, als
man ihre Fingerabdrücke nahm, sie gab auch unumwunden zu, Kölbl zu kennen. Ja,
er stand unter Beschuss von Seiten der Mobilfunkgegner, auch das gab sie gern
zu.
»Sie wohnen in
Raisting. Ich hab mich mal schlau gemacht. Die Erdfunkstelle, die heute der
Telekom gehört, gibt’s seit 1964, und es existiert noch dazu eine DLR -Bodenstation, die sich vier
Kilometer etwas weiter südwestlich im Wald verbirgt. Und wissen Sie, was ich
noch gelesen habe: Als die Zwillingssatelliten der Mission GRACE im März 2002 am russischen
Weltraumbahnhof gestartet waren, war es diese Bodenstation, die nach neunzig
Minuten den Kontakt zu den Satelliten hergestellt hatte. Ist das karmisch denn
gut, so nahe an diesem ganzen Gefunke zu wohnen – vor allem in Hinblick darauf,
dass Sie sich doch gegen Mobilfunk engagieren?« Baier sprach schon wieder in
ganzen Sätzen und verblüffte Gerhard einmal mehr. Wann hatte er das
recherchiert?
Frau Kassandra saß
ganz entspannt am
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